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lebendige Wirtschaftsgeschichte

 

«Anleihen Eidgenossenschaft»
Switzerland querfeldein

Hier wächst meine site über historische Wertpapiere und Finanzdokumente: immer noch technisch richtig, aber faktisch falsch als «nonvaleurs» benamst — und schlechter bekannt als Scripophilie oder Scripophily.

Auf Anhieb ist dies alles nur Altpapier, doch näher betrachtet sind es Zeugen ureigen menschlichen Daseins: Not und Erfinden, Unternehmertum, Marktplatz, Handel, Wettbewerb und Poker, Wirtschaft vs. Politik, Ängste oder Hoffnungen, konkretes Bauen gegen abstrakte Spekulation, Hartnäckigkeit im Duett mit Geldgier — die Börse legt seit Jahrhunderten das Parkett für den täglichen Tanz von Bulle und Bär.


IBSS 2011 Journalist Award oder: Ein Ausflug in den Rheingau
(11/05/29, ergänzt 11/09/15 und 13/01/28)

 

Am 7. Mai 2011 hatte ich die Ehre und grosse Freude, anlässlich der 21. Auktion der HWPH in der IHK Wiesbaden für ghidelli.net den 2011 erstmals vergebenen «IBSS Journalistenpreis» in der Kategorie «Elektronische Medien» entgegenzunehmen.

IBSS Journalistenpreis Award 2011
der «IBSS Journalist Award 2011» für Elektronische Medien
 
Michael Weingarten Matthias Schmitt Volker Malik
Gratulation
Dank und Gruss
die Viererbande ;-)

In der Pause, bevor die «50 Highlights» zum Ausruf kamen, wurden die drei Preisträger bekanntgegeben (zur Pressemitteilung): Mit dem «IBSS 2011 Award» ebenfalls geehrt sind Maike Brzoska in der Kategorie «Printmedien Deutschland» (Süddeutsche Zeitung) und Jeroen Molenaar (Kategorie «Printmedien International», Bloomberg). Darauf stossen wir an — passend, mit einem guten Tropfen aus Rüdesheim im Rheingau …

Steinberger Cabinet
… mit dem Steinberger Cabinet Mousseux Exquisit: Merci & Salute!

Das gibt mir die Gelegenheit, ein paar exquisite Dokumente zu zeigen, die mir ein freundlicher Leser vor langer Zeit (als feedback auf die Napa Valley-page) unerwartet zustellte: Archivalien und ein Text zur ältesten Rüdesheimer Weingrosshandlung, der Weinbau- und Weinhandelsgesellschaft Dilthey, Sahl & Co.; herzlichen Dank für den Gastbeitrag!

Rüdesheim um 1650
Rüdesheim, um 1650

zvg/ Seit dem 14. Jahrhundert herrschte im Rheingau der Landbrauch des Weinmarktes, von dessen Ordnung nur die grösseren Weingüter des Adels und der Klöster befreit waren. Jeweils kurz nach der Ernte reisten Delegationen von Niederländischen, Niederrheinischen und Frankfurter Weinkaufleuten an, die bei ausgedehnten Weinproben mit dem Rüdesheimer Schultheiss und Rath über die Preise für die in den vielen örtlichen Kellern lagernden frischen Weinvorräte verhandelten. Meist erst nach etwa zehn Verhandlungsrunden stand dann der für Jedermann verbindliche Preis des betreffenden Jahres fest, was mit Kirchengeläut und einem fröhlichen Gelage gefeiert wurde. Doch dieser Preis galt gleichermassen für die besseren wie die schlechteren Weine, also suchten sich die Kaufherren regelmässig die besten Fässer aus und liessen die Rheingauer Winzer auf den schlechten Weinen sitzen. Die Mainzer Landesregierung führte daher nach Ende des dreissigjährigen Krieges den Weinverkauf in Losen ein, die sogenannte «Gabelung»: Mit jedem guten Fass musste auch ein schlechteres gekauft werden. Diese Koppelung schreckte jedoch die Fernreisenden ab, sodass ab 1700 der Absatz nur noch über Frankfurter Händler lief.

Rüdesheimer Berg Orleans Wein
Rüdesheimer Berg Orleans Wein, um 1810,
die älteste im Firmenarchiv vorliegende Etikette

Die starre Weinmarktordnung wurde je länger, je mehr als dem Geschäft hinderlich angesehen, und so nahmen ab 1718 die Freihandverkäufe zu. Da sich anfangs des 18. Jahrhunderts die Weingüter-Struktur im Rheingau durch grosse Investitionen auswärtiger Adliger (sog. «Forensen») ohnehin über den Geltungsbereich der alten Regelung hinaus entwickelte, hob die Landesregierung den Weinmarkt 1728 ganz auf. Selbst das strikte Einfuhrverbot fremder Weine nach Rüdesheim (um das rufschädigende Verschneiden zu verhindern) wurde Ende des 18. Jahrhunderts aufgehoben. Wenig halfs — als Folge der anhaltenden Kriegswirren (Siebenjähriger Krieg, Koalitionskriege, Napoleonische Kriege) kam der Rheingauer Weinhandel völlig zum Erliegen. Erst ab 1815 normalisierten sich die Verhältnisse, und ein sich lohnender Neuanfang schien möglich.

Rauenthaler Berg - Henriette Sonntag
Rauenthaler Berg genannt Demoiselle Sonntag, 1826er;
die Etikette zeigt die seinerzeit weltberühmte Opernsängerin
Henriette So(n)ntag (1806-1854), deren «Fan» PFF Dilthey war

Ein westfälischer Kaufherr (Johann Roderich Dilthey, 1766-183?) kam auf die Idee, seine guten Beziehungen zum erwachenden deutschen Bürgertum für den Absatz des Weins aus dem übervollen Rheingauer Keller zu nutzen — begünstigt durch den aussergewöhnlich guten 1811er Jahrgang, der 1815 (noch) billig zu haben war. Sein erster Geschäftspartner, der Wein und Kapital stellen konnte, war der örtliche «Amtskeller»: ein Hofgerichtsrath Schmidt, Leiter des kurmainzer Amtsbezirkes Rüdesheim. Nach dessen Tod 1819 übernahm Diltheys Sohn Peter Friedrich Ferdinand («PFF», 1792-1875) die Geschäfte, der Dank der Mitgift seiner Frau Elisabeth Margarethe Hertz — einer Tochter des Wiesbadener Bürgermeisters — mehrere Weinlager anlegen konnte. Wegen der verzwickten Zollsituation der Kleinstaaten verteilte er sie im damaligen «Dreiländer-Eck» in unmittelbarer Umgebung auf Nassau (Rüdesheim), Preussen (Münster/Nahe) und Hessen-Darmstadt (Bingen).

Rüdesheimer Berg
1775er Rüdesheimer Berg, Herzoglich Anhalt-Dessauische Hofkellerey;
Etikette gedruckt um 1857 (der Wein stammte aus einer Konkursmasse)

Bald war er nicht nur Kommissionär, sondern auch Erzeuger: Seine 1839 ausgebaute Kellerei galt damals im deutschsprachigen Raum als Musterbetrieb¹. Die Kunden waren zu 70% begüterte Privatleute (Adel, Beamte, Freiberufler und Gutsbesitzer), 15% Gastronomen und 5% selbständige Weinhändler. Dilthey Sohn fand sie zunächst vor allem in Nord- und Ostdeutschland, später erweiterte sich sein Geschäftskreis — nach Einführung von Dampfschiffahrt und Eisenbahn und Erfindung der «romantischen Rheinreise» durch die Engländer — bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts europaweit, und unter dem Enkel Theodor Friedrich Ludwig (1825-1892, verheiratet mit Anna Katharina Josefa Marie Sahl, 1865 Mitgründer und erster Vorsitzender der Wiesbadener Handelskammer, heute IHK) und Urenkel Ferdinand (1855-1912) schliesslich weltweit. Umsatzstärkstes Exportland wurde neben England das zaristische Russland, wo die Firma in St. Petersburg ein grosses Kommissionslager einrichtete, aus dem 1863 eine eigene Filiale entstand.

Rudesheimer Rottland Cabinet 1839
Rudesheimer Rottland Cabinet, 1839er, Etikette für den Export

Nachdem 1866 diese Filiale faillierte, gleichzeitig Graf Wservoloitzky (ein grosser russischer Kunde) Forderungen in Höhe von 99'000 Goldmark nicht begleichen konnte, und der Weinhandel innerdeutsch wegen der Annektion Nassaus durch die Preussen und in Amerika durch den Bürgerkrieg stockte, kam Dilthey mit 550'000 Gulden Zinsschulden an den Rand der Insolvenz. Dank der Sicherheit seines grossen Weinlagers im Wert von 78'000 Gulden und des 1867 wieder erstarkten Umsatzes willigten die Gläubiger ein, eine Aktien-Kommandit-Gesellschaft zu gründen.

Zirkular Dilthey, Sahl & Co.
Umwandlung in einen «Actien Verein», Kopf des Zirkulars, 1867

Das Anfangskapital betrug 430'000 Reichsthaler, eingeteilt in 1'300 Wertpapiere zu 200 Reichsthaler bzw. 350 Gulden, nämlich: 500 Actien Lit. A für erstrangige Gläubiger, 150 Actien Lit. B für die Familien Dilthey und Sahl sowie 650 Obligationen als Bezahlung der Hälfte der Gläubigerforderungen «al pari» (verzinst zu 6% und mit jährlicher Amortisation von 2%). Die Laufzeit war auf dreissig Jahre limitiert. 1889 kam es zur Verlängerung und einer weiteren Emission zu 1'000 Reichsmark. An der ersten Aktionärsversammlung am 2. September 1867 im Wiesbadener Hotel «Zum Weissen Lamm» nahmen 40 Aktionäre teil, unter anderen die Bankhäuser Salomon Oppenheim (Köln) und Gustav Adolf de Neufville (Frankfurt) sowie die Sektfabrikanten C.A. Kupferberg (Mainz) und Matheus Müller (Eltville).

Obligation «Rheinischer Actien-Verein für Weinbau und Weinhandel Dilthey, Sahl & Co. in Rüdesheim»
ein herrliches Stück: Rheinischer Actien-Verein für Weinbau und Weinhandel
Dilthey, Sahl & Co. in Rüdesheim, 1867, Obligation zu 6% über
200 Thaler Preussisch Courant bzw. 350 Gulden Süddeutscher Währung

Aufgrund der verbesserten Kreditsituation nahm die Firma nun einen starken Aufschwung, der sich im Umsatz wiederspiegelte: Waren es 1868 noch 148'000 Liter, stieg der Verkauf bis 1880 auf 411'000 Liter Wein (wobei es im Krieg 1870/71 und 1881–84 wegen Kriegsgefahr zu Rückgängen kam). Diese Schwankungen konnten jedoch durch das stetig steigende Exportgeschäft aufgefangen werden (England 22%, Russland 12% und Amerika 9% des Umsatzes). Vor allem der Sektexport florierte: In Russland bevorzugte die Oberschicht einen noch über den «Goût Américaine» hinausgehenden süssen Geschmackston, den «Goût Russe», der nur durch eine extrem hohe Liqueurdosage herstellbar war. Der Preis für eine Flasche dieses Luxusgetränkes entsprach etwa der Summe, für die verschuldete Kunden einen Leibeigenen verpfänden konnten (40 Rubel).

Germania Sekt
Germania-Sekt, 1877, Etikette,
anlässlich der Grundsteinlegung zum Niederwald-Denkmal
 
Berg Riesling 1868
Kaiser-Wein
Kaiser Sekt
Drei Kaiser
Berg Riesling
Kaiser-Wein
Kaiser Sekt
Drei Kaiser


Theodor Dilthey reiste viel und nutzte sämtliche damaligen Marketingstrategien: Fürs Inlandsgeschäft setzte er auf den neuen Nationalstolz und engagierte sich für den Bau des Denkmals am Rüdesheimer Niederwald, der «Germania». Dem Ehrentrunk bei der Grundsteinlegung für Kaiser Wilhelm I. und weiteren nationalen Produktnamen widmete er eigene Händleretiketten, von denen er mehrere beim Kaiserlichen Reichspatentamt schützen liess (u.a. «Drei Kaiser Wein», «Siegestrank», «Vater Rhein», «Blume des Rheins», «Germania-Sekt», «Adlersect» und «Moselbraut»).

Dilthey Sahl poster
Rüdesheimer Berg Riesling, 1893,
Werbetafel, Karton, 55 x 25 cm
   
Moselbraut
Johannisberger Klaus
Rüdesheimer Hinterhäuser
Loreley Sect
Moselbraut
J'berger Klaus
R'heimer Hh
Loreley Sect


Für das Auslandsgeschäft beteiligte sich Dilthey erfolgreich an allen Weltausstellungen — die Medaillen wurden sogleich der «corporate identity» auf Schriftköpfen und Etiketten beigefügt —, und zum selben Zweck erwarb Dilthey die kaiserlich russischen und k.u.k. österreichischen Hoflieferantentitel des Château Mouton Rothschild.

Aktie «Rheinischer Actien-Verein für Weinbau und Weinhandel Dilthey, Sahl & Co. in Rüdesheim»
Rheinischer Actien-Verein für Weinbau und Weinhandel Dilthey, Sahl & Co.
in Rüdesheim, 1889, Aktie zu M 1'000, signiert von Theodor Dilthey

1892, nach dem Tode seines Vaters wandelte Ferdinand Dilthey die Aktiengesellschaft in eine GmbH und zahlte bis 1903 alle Fremdanteile aus. 1897 gab er einem Handlungsreisenden den Auftrag zur weltweiten Acquise, so z.B. in Indien (wo gerade die Pest herrschte und Hitze-taugliche Weinkeller unbekannt waren), in China (dort wurde vor allem Whisky mit Mineralwasser konsumiert) oder in Australien (man bevorzugte bereits den eigenen Wein …) — kein aussichtsreiches Projekt.

Assmannshäuser Rothwein label
Assmannhäuser Rothwein (from Germany), Etikette, um 1885

1909 veräusserte Ferdinand die Firma an die Geisenheimer Schaumweinkellerei Gebr. Hoehl, da diese besonders am Sektexport nach Russland interessiert war; die Revolution von 1917 brachte das Geschäft aber zum Erliegen (NB. Das nach Finnland emigrierte zaristische Hofcomptoir beglich von dort aus alle noch offenstehenden Rechnungen!). Danach übernahm der Prokurist der Firma, Philipp Jacob Göttert die Geschäfte, bis dessen Enkel wegen der damals sehr ungünstigen Marktentwicklung für den Rheinwein-Grosshandel die Tore auf Ende 1968 schloss.

Rüdesheim um 1900
Rüdesheim, Ansichtskarte, um 1900

PS: Rüdesheim ist wirklich die Reise & den Aufenthalt wert — wir fühlten uns rasch zuhause und genossen die paar Tage am Rhein.

Quellen:
¹ ausführlich beschrieben in Benedikt Kölges «Œnochemie», Amelung-Verlag, Berlin 1841
• Textvorlage: Rolf Göttert, Stadtarchivar, Rüdesheim a.Rh.
• Dilthey'sches Familienarchiv (in Privatbesitz)
• Universität Köln, Seminar für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, digitale Bibliothek
• im Text genannte und eigene Unterlagen

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