Viele historische Wertpapiere sind wegen ihrer offensichtlichen Schönheit, ihrer Graphik, der meisterlichen Stahlstiche oder herrlichen Lithographien beliebt. Es gibt aber auch völlig unscheinbare Finanzdokumente, die sich erst bei genauerem Hinschauen (und Lesen) als spektakulär erweisen.
das Korsarenschiff «L'Aventure» (88 Fuss lang und bestückt mit lb8-Kanonen)
kaperte sieben Schiffe, bis es 1803 von den Engländern abgefangen wurde;
Bordeaux, 19 Germinal an 9 Républicain (1801), Aktie über FRF 1'000
Mit der Pariser Seerechtsdeklaration 1856, als die Abschaffung der Kaperei beschlossen wurde, ist die Seeräuberei von allen Staaten geächtet (und wird seit Juni 2008 von den Vereinten Nationen sogar als kriegerische Handlung eingestuft). Bis Ende des Krimkriegs aber gingen Korsaren und Freibeuter zwar einem nicht alltäglichen, aber durchaus ehrbaren Beruf nach, wenn sie ausländische Handelsschiffe in internationalen oder fremden Gewässern kaperten und die Beute einsackten.
le «Lively», Légue bei Saint-Brieuc 1810, Aktie über FRF 250
Einige berühmte Persönlichkeiten waren (zumindest eine zeitlang) Korsaren, wie Sir Francis Drake, Sir Walter Raleigh, Klaus Störtebeker und der Malouine Robert Surcouf («le tigre des sept mers» und Schrecken der Engländer, dem auch ein Ernst von Linden 1882 einen Roman widmete; eines der vielen Pseudonyme von — yep: Karl May).
ab 18. April 1810 konnte Monsieur Bonamy als Aktionär Nr. 42 teilnehmen
«an allen guten und schlechten Ereignissen, wie es Gott gefallen wird»
Gegen eine Grundgebühr erhielten Reeder und andere Entrepreneurs von der Regierung eine lettre de course (Kaperbrief) ausgestellt, und damit durfte die Mannschaft frei Jagd auf alles machen, was fette Beute versprach: Die Seeleute konnten jedes «feindliche» Schiff entern und plündern, nach Bedarf Gefangene machen und gegen ein Lösegeld wieder freilassen oder — wenn sie es für opportun hielten — sogar Städte angreifen und ausrauben. Nicht nur irische oder spanische Küstenorte fürchteten die Korsaren: Die lizenzierten Banditen zur See waren weltweit berüchtigt, denn sie scheuten keine Distanz und weiteten ihre Raubzüge auch auf Nord- und Westafrika sowie mittelamerikanische Gebiete wie Kuba oder Kolumbien aus.
Korsarenschiff «L'Auguste», Saint-Malo 1810, Aktie zu FRF 1'000;
eine Brigg (Zweimaster) mit etwa 100 Mann Besatzung und bewaffnet mit
«14 Kanonen, Tromblons, Gewehren, Pistolen, Säbeln, Dolchen, Lanzen,
Bomben, Granaten, etc.»; das Kapital lag bei FRF 130'000, wahrscheinlich
gestückelt in 130 Anteile; signiert ist der Titel von Robert Surcouf
(photo: courtesy of Mario Boone)
Surcouf, das prominente Beispiel, nahm es dabei mit der fremden Flagge nicht immer genau und holte sich seinen Ertrag auch von Schiffen der Compagnie Française des Indes. Doch seine Heimatstadt Saint-Malo (die wegen ihres historischen Stadtkerns und ihrer Festungsanlagen berühmte Stadt an der bretonischen Côte d'Émeraude) nahm ihm dies nicht allzu übel, schliesslich fiel ein Teil der Beute nach akribischer Prüfung und Inventarisierung durch die Admiralität an die Behörden; und das Edelmetall ging an den König.
in der Aufsicht das Anwesen von Louis Gouttiers, einem Reeder, Korsar und
Freund von Surcouf (courtesy of Jean Gauttier, dazu eine grosse Bildfolge)
Wie bei jedem Geschäft, das man nicht alleine stemmen kann oder will, sucht der Unternehmer nach Risikokapital und gibt dafür Aktien oder Anteilscheine aus, und wie jede anständige Firma, führten auch die staatlich konzessionierten Piraten säuberlich Buch über ihre Geschäfte. Deshalb gibt es Wertschriften und Finanzdokumente aus diesem merkwürdigen und aus heutiger Sicht kriminellen Gewerbe.
Prospekt zu Surcoufs Kutter «Le Renard»: Das Kapital lag bei FRF 80'000,
wahrscheinlich gestückelt in 80 Aktien zu FRF 1'000
Als der bretonische Reeder François Louis Rouxel de Villeféron (1789–1866) beschloss, im Hafen von Légué bei Saint-Brieuc die «Lively» zu bauen, berechnete er die voraussichtlichen Kosten — zwischen 15'000 und 16'000 französische Francs — und gab 64 Anteile zu je FRF 250 aus. Geplant war ein Côtre (ein schneller, wendiger Einmaster mit grossem Segel) für 18–20 Seeleute, kommandiert von Kapitän Sauveur und bewaffnet mit «kleinen Kanonen, Stussbüchsen, Gewehren und anderen Waffen». Der Reeder sorgte für die Bewilligungen und erstattete alle staatlichen Kommissionen und Abgaben, den Aktionären stand die Beute (nach Abzug aller Kosten des Reeders) anteilmässig zu. Die Einzelheiten wurden vorderseitig fein säuberlich im Reglement aufgeführt, damit ja niemand später etwas zu motzen hatte (s. die Punkte 6° und 7°).
so ähnlich dürfte Rouxels «Lively» kurz nach 1810 ausgesehen haben:
«Le Renard» (Nachbau, das Original wasserte 1812),
ein Korsarenschiff des berühmten Robert Surcouf aus Saint-Malo
Solche Anteile an Korsarenschiffen sind selten, weil es nicht viele derart organisierte Unternehmungen gab (ich selbst kenne nur eine Handvoll) und das benötigte Kapital im Verhältnis zu den üblichen Industrie- und Handelsgesellschaften doch eher klein und in nur wenige Anteile gestückelt war.
Hafen und Leuchtturm von Légué bei Saint-Brieuc, ca. 1900
Saint-Brieuc ist immer noch in (fast) aller Munde — der Grund ist aber viel naheliegender: Die Jakobsmuscheln aus dieser Gegend werden auch «perles blanches» genannt, gelten als die feinsten der Grossen Pilgermuscheln und machen mit jährlich über 6'500 Tonnen fast die Hälfte des französischen Fangs aus.
verarbeitet werden die eher kleinen Jakobsmuscheln aus Saint-Brieuc
(wie auch andere Delikatessen, z.B. der filet de thon blanc Germon)
von der Konservenfabrik La Pointe de Penmarch in Douarnenez
PS: Reuters meldete am 1. Dezember 2009, die Seeräuber am Horn von Afrika hätten sich genossenschaftlich organisiert und einen 24/7-Handelsplatz für entsprechendes Venture Capital auf die Beine gestellt. Sie starteten Mitte Jahr mit 15 eingetragenen «maritime companies» (wie der Ex-Pirat und heutige Investor «Mohammed» Reuters erklärte), vier Monate später seien es schon 72 Unternehmungen. Man muss nicht selbst auf Beutezug gehen, sondern wird Teilhaber an Gewinn und Verlust: Gern gesehen ist natürlich Bargeld (brauchbar gerollt), willkommen sind aber auch zweckmässige Sacheinlagen (wie Nachtsichtgeräte, Sturmgewehre und Aussenbordmotoren) sowie alle auswertbaren Informationen über greifbare Handelsschiffe und sonstige Zielobjekte.
Die von Kolonialherren, Diktatoren und Warlords in einem jahrzehntelangen Raubzug völlig zerstörte Region gehört zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten der Welt, und so sind die erpressten Summen geradezu Manna. Kein Wunder meint der stellvertretende Sicherheitsoffizier des Hafenstädtchens Haradheere, Mohamed Adam: «Piracy-related business has become the main profitable economic activity in our area and as locals we depend on their output. The district gets a percentage of every ransom from ships that have been released, and that goes on public infrastructure, including our hospital and our public schools». Die 22jährige geschiedene Sahra Ibrahim brachte den von ihrem Ex-Mann als Unterhaltszahlung übergebenen Raketenwerfer ein und ist mit dem Investment bisher zufrieden: «I am really happy and lucky. I have made $75'000 in only 38 days since I joined the ‚company’».
die genossenschaftlich organisierte «stock exchange» vor einem Gebäude
der ehemaligen Dalsan Bank in Haradheere, an der somalischen Küste
(Photo: courtesy of Mohamed Ahmed/Thomson Reuters)
«Die Aktien sind frei handelbar und jedermann zugänglich», erläutert der zum Kapitalisten avancierte «Mohammed», denn «we've made piracy a community activity». Urige Marktwirtschaft in ihrer reinsten Form — vielleicht kann man auf den Bildschirmen bald auch den CoCoX (Corsair Cooperative Index) abrufen und verfolgen? Dann fehlt nur noch der von einer smarten Investment Bank ausgebuffte goldindexierte «Surcouf Premium Fund» …
… und schliesslich reaktivieren wir dieses Unternehmen:
The Somali Coast Trading Corporation, Limited, 1902,
Warrant (Optionsschein) auf 25 Stammaktien zu je £1
Quellen:
• historisches Material zum «Renard» der Association du Cotre Corsaire, Saint-Malo
• Les amis du Turnegouet über: Le port du Légué et son évolution
• im Text genannte und eigene Unterlagen