Zuerst wollte ich diesen Artikel unter «Bärentatzen & Bullenhufe» ablegen. Doch weil er sich entwickelt, wird er eigenständig publiziert. On verra …
Trotz flexibler Jahresarbeitszeiten und der Wochenendtrips in die Weltmetropolen, eines hat sich über die Jahrzehnte gehalten: Wenn Bären und Bullen lustlos die Blessuren leckend am Ring baumeln, wenn Schreiberlinge im Sommerloch minder wichtige Tagesaktualitäten links liegen lassen und sich ums vermeintlich Belanglose kümmern, wenn der Ferienverkehr sich durch die vielen endlosen Baustellen quält und zusätzlich die Vertikalen meilenweit staut — dann sind die Hundstage da.
The Buffalo Vulcanite Asphalt Co., Ltd., 1888, Zertifikat über 75 Aktien,
signiert William J. Connors (President) und Charles W. Wagner (Treasurer);
ein seltenes Stück: Das Grundkapital war in nur 400 Aktien eingeteilt
Die «dog days» haben zwar weder mit Hitze noch mit Urlaub etwas zu tun — vom 23. Juli bis zum 23. August geht das Sternbild des Grossen Hundes auf —, aber in unseren Breitengraden ist man durstig wie ein Kamel; Wasser & Co. ist angesagt. Die Scripophilie kennt ein paar hübsche Zeugen zum Thema, also «Manege frei!» für dieses oberflächlich betrachtet farblose Business.
Porla Brunn, Stockholm 1826, Aktie zu 50 Riksdaler;
die Grundauflage betrug nur 700 Ex.
(Signaturen)
Aus Schweden kommt ein sehr altes und dekoratives Papier: die Aktie des Porla-Brunnens. Die bis in unsere Tage geschätzte Heilquelle — seit 1923 wird das eisenhaltige Wasser unter der Marke «Porlavatten» verkauft — liegt auf dem gleichnamigen Hügel nahe der Stadt Laxå in der Provinz Örebro, zwischen den Binnenmeeren Vänern und Vättern, am Rande des südschwedischen Nationalparks «Tiveden». Die Quelle gehört heute der Eden Springs Sweden AB und liefert u.a. das Wasser für die Herstellung des polnischen «Ultimat Vodka» der Patrón Spirits Co.
Herausragend ist der Titel nicht nur wegen seines Alters, sondern weil er die Originalsignatur von Jöns Jacob Berzelius (1779-1848) zeigt. Er gilt als Vater des seit 1811 bis heute gültigen Periodensystems, der Symbolschreibweise der Elemente (aka die Kürzel im Kreuzworträtsel) und damit als Pate der Synthese: Anhand ihrer relativen Atommassen konnte er die Bausteine ordnen, die bis dahin üblichen alchemistisch-astrologischen Symbole durch die technische Zeichensprache der Chemie ersetzen und Dank der nun klaren Verhältnisse die möglichen Verbindungen im voraus berechnen. Berzelius entdeckte auch verschiedene Elemente wie Selen, Silicium und Thorium, führte grundlegende Begriffe der organischen Chemie ein (z.B. Katalysator und Polymere), war auch federführend bei der Entwicklung heute klassischer Techniken und Analysegeräte (wie Elektrolyse, Filterpapier, Wasserbad) und brachte wichtige Erkenntnisse über ganze Klassen von Verbindungen (u.a. die Platinmetalle). Der Schwede ist einer der ganz Grossen der modernen Chemie, und seine Unterschrift ist mir auf keinem anderen Titel bekannt.
S.A. des Eaux Minérales et Alcalines de Bonnevie à Évian,
Genève 1859, Aktie CHF 250; mit einer hübschen Ansicht;
den s/w-Ausschnitt fand ich in meinen Unterlagen, doch an die Herkunft
erinnere
ich mich nicht mehr (Hinweise/Informationen sind willkommen!)
Zwei der ältesten Wasser-Papiere aus unseren Gefilden (beides Schweizer Stücke :-) sind die äusserst seltenen Aktien der in Genf beheimateten «Bonnevie» (oder «Bonne Vie»), eine der acht Evian-Quellen und heute bekannt als eine der vier grossen Thermen in Evian-les-Bains. Obwohl die Landesgrenze dazwischen liegt, ist Evian eng mit der Stadt Genf verbunden und profitiert vom nahen Flughafen Genève-Cointrin; ein sehr frühes und heute noch erfolgreiches Beispiel einer eigenständigen Region, die sich um nationalistische Grenzen foutiert und zentralistische Arroganz bekämpft.
S.A. des Eaux Minérales et Alcalines de Bonne Vie à Evian-les-Bains,
Genève 1865, Aktie CHF 500; mit vier sehr feinen Vignetten
Die Emission von 1859 kam in urspünglich 2'400 Aktien zu je CHF 250 heraus. Anscheinend wurde sie bei der Kapitalerhöhung vollständig ersetzt durch diejenige von 1865 mit 2'000 Aktien und Nennwert CHF 500.
S.A. des Eaux Minérales Naturelles de la «Villa Cachat» Évian-les-Bains,
Lyon 1899, Gründeranteil ohne Nennwert
Als «Evian» weltweit berühmt geworden ist aber die Cachat-Quelle, 1789 entdeckt vom sich erholenden Markgrafen de Lessert im Garten eines Monsieur Cachat. 1859 trugen die Gründer die «Société Anonyme des Eaux Minérales de Cachat à Evian» mit einem Kapital von LIT 400'000 ins Handelsregister ein («Alta Savoia» war als Folge des Wiener Kongresses wieder Teil des Königreichs Piemont-Sardinien). Ein Jahr später ging die Haute-Savoie wegen des Savoyerhandels an Frankreich, und 1870 gab Napoleon III. seine Approbation zur Firma.
die Nachdrucke der alten Ansichtskarten stammen aus der «Collection de la Source Cachat», freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der S.A. des Eaux Minérales d'Evian |
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Hundert Jahre danach übernahm die BSN/Danone-Gruppe die S.A. des Eaux Minérales d'Evian/S.A.E.M.E. (und damit auch die Quellen Cachat/Bonnevie), und mit Badoit und Volvic gelang ihr der Sprung in die erste Liga der Mineralwasser-Abfüller. Allein «Evian» ist heute mit täglich über fünf Millionen abgefüllten Liter der weltweit grösste Hersteller von natürlich stillem Mineralwasser — das Credo ist «pureté» — und Flaggschiff des in Paris domizilierten multinationalen Konzerns.
Source Perrier S.A., Vergéze (Gard) um 1950, Aktie FFR 2'500,
Vorlage für die Emission von 1951 über 10'000 Aktien;
das entsprechende Stück in Grün
Das zweite weltberühmte französische Mineralwasser ist Perrier mit Sitz in Vergèze (im südfranzösischen Département Gard gelegen, etwa 15 km von Nîmes entfernt) und seit 1992 Teil des Nestlé-Konzerns (dem ebenfalls Contrex, Quézac, San Pellegrino und Vittel gehören). 1841 kümmerte sich ein Alphonse Granier erstmals um diese Quelle und geschäftete ab 1863 mit dem Bouillens-Quellwasser. 1898 erwarb Dr. Louis Perrier, ein Arzt aus Nîmes die Quelle und gründete die «Société des Eaux Minérales, Boissons et Produits Hygièniques de Vergèze». 1903 übernahm Sir John Harmsworth das Unternehmen, benannte es um zu Ehren des verdienstvollen Arztes, gab das Thermalgeschäft auf und konzentrierte sich aufs Abfüllen und den Verkauf des Perlwassers (dieser Gentleman gilt auch als Erfinder der bis heute typischen Keulenflasche — ein Kultobjekt).
Andy Warhol, 1983, Plakat, Agentur Langelaan & Cerf/Paris;
prämiert mit dem «Grand prix de l'affiche française»
(courtesy of Perrier; trial proof)
Nachdem Perrier im Zweiten Weltkrieg in deutsche Hände fiel, kaufte 1947 der junge Wechselstuben-Agent Gustave Leven das Unternehmen, modernisierte den Betrieb und begann mit der kleinen grünen Flasche die Welt zu erobern. Wurden 1908 acht Millionen Flaschen verkauft, betrug der Umsatz 1933 M19, 1948 M30 und 1952 M150 Flaschen; zwanzig Mal mehr in weniger als 50 Jahren …
1954 schluckte Perrier Contrex/Contrexeville, baute 1973 seinen eigenen Flaschenhersteller — die Verrerie du Languedoc —, eröffnete 1976 die erste Vertretung ennet des Teichs und verkaufte 1988 allein in den USA rund M300 Flaschen. Perrier exportiert heute in 144 Länder und ist mit über 700'000'000 Flaschen im Jahr weltweit die Nummer 1 der kohlensäurehaltigen Mineralwasser.
Marianis «Vin Tonique», ex-Anzeige «The London Illustrated News», 1892;
dazu die politisch korrekte Etikette, die schlüpfrige Anzeige
und ein kleines ad booklet (1894–1896)
Alkohol ist kein geeigneter Durstlöscher, und dieser Artikel sollte zur Abwechslung (nach dem Ausflug ins Napa Valley und dem bacchantischen Erni-Festival) von A bis Z Promille-frei bleiben. Doch kann ich die wohl berühmteste Brause nicht auf den Tisch bringen ohne den Umweg über einen vor mehr als hundert Jahren weltweit verbreiteten «Heiltrank».
das Marketing-Genie Angelo Mariani war Mitte der 1880er
der grösste Importeur von Coca-Blättern in ganz Europa
Angelo Mariani, ein 1838 in Pero-Casevecchie geborener Korse, braute 1863 ein Getränk, das Jahrzehnte später in anderer Form die Welt erobern sollte. Mariani, Apotheker von Beruf und ein gescheiter Mann, hatte von Coca-Blätter kauenenden Peruanern gelesen, die so ihren Hunger dämpften und die Müdigkeit vertrieben. Weshalb nicht diese Substanz mit dem beliebten Bordeaux-Wein mischen und als «functional food» unter die Leute bringen? Solch ein «Vin Tonique» musste erfolgreich sein.
Société de l'Apéritif Mariani Quinquina, Marseille 1909, Aktie FFR 100;
die ursprüngliche Auflage betrug nur 2'500 Ex.
Die süffig potente Mixtur — Cocaextrakt mit knapp sechs Milligramm Kokain pro Flasche und Bordeaux im Verhältnis 1:2 — erfreute sich rasch grösster Beliebtheit >>> beware, nun folgt eine aufschlussreiche, aber langweilige Aufzählung! Unter Marianis Kunden fanden sich Königin Victoria von Grossbritannien und der Prince of Wales, die Königin Portugals und der spanische König, die Könige Norwegens und Schwedens, der bulgarische Prinz und die rumänische Königin, der König Kambodschas, der amerikanische Präsident William McKinley, die französischen Staatspräsidenten Faure, Loubet und Poincaré, der russische Zar und seine Gemahlin sowie der Botschafter des chinesischen Kaisers in Paris und der kommandierende General der British Army. Die Päpste Leo XIII. und Pius X. waren ebenso angetan (ersterer verlieh dem Getränk sogar eine Goldmedaille) wie die Schriftsteller Alexandre Dumas, Anatole France und Émile Zola — dieser dankte 1895 mit den Zeilen: «J'ai à vous adresser mille remerciements, cher Monsieur Mariani, pour ce vin de jeunesse qui fait de la vie, conserve la force à ceux qui la dépensent et la rend è ceux qui ne l'ont plus.» —, und der französische Romancier und Essayist Léon Bloy bestellte 1898 eifrig nach («Cher Monsieur, J'ai reçu un tel secours de votre vin au moment de mes dernières couches que je vous conjure de m'en faire envoyer d'urgence une nouvelle caisse.»). Jules Verne («the wonderful tonic wine»), Henrik Ibsen und H.G. Wells waren ebenso begeistert wie der Komponist Charles Gounod («Honor to Vin Mariani, that admirable Tonic-Wine, which so often restored my strength»), die Schauspielerin Sarah Bernhardt («My health and vitality I owe to Vin Mariani») und die amerikanische Tänzerin und Choreografin Loïe Fuller, im Club mit Bartholdi (der mit der Freiheitsstatue), Mucha und Rodin. Vom «King of Tonics» liessen sich auch die Gebrüder Auguste und Louis Lumière sowie Louis Blériot, Alberto Santos-Dumont und Thomas Edison inspirieren. Die Anarchistin Louise Michel liebte den Power-Trank, wie Universitätsprofessoren und Mitglieder der Académie Française und und und — ein WhoIsWho der Epoche; die Dankesschreiben und Zeugnisse füllen 15 ledergebundene Bände. Auch in Deutschland fand das Lebens-Elixir reissenden Absatz, und sogar das Militär wurde hellhörig: 1886 empfahl die «Allgemeine Militär-Zeitung» den Kokain-Wein als «neues Verpflegungsmittel im diesjährigen Manöver» …
Plakat des Lithographen, Malers und Grafikers Jules Chéret, 1894; Chéret gilt als Begründer der modernen französischen Plakatkunst und war übrigens auch Geschäftsführer und künstlerischer Leiter der unter Scripophilisten gut bekannten Imprimerie Chaix in Saint-Ouen bei Paris |
Offenbach |
Moulin Rouge |
Leona Dare |
Olympia |
Kokainhaltige Pastillen, Tee usw. waren weitere Schlager der nun am Pariser boulevard Haussmann beheimateten Firma, und mit dem fiebersenkenden, schmerzstillenden und gegen Malaria anscheinend wirksamen Chinarinden-Apéritif brachte Mariani ein zusätzliches Produkt auf den Markt; er war wirklich ein PR-Genie. Doch dann merkte die Öffentlichkeit die täuschende Gefahr all dieser Mittel: In Frankreich wurde die Kokain-Mischung 1910 verboten (Mariani starb 1914, und seine Erben erfanden ein neues Getränk — le Tonique Mariani —, das in Apotheken bis 1963 verkauft wurde), Deutschland stoppte den freien Verkauf mit dem Opiumgesetz vom 20. Juli 1920, und die USA zogen auf ihre eigene Weise nach.
ein italienisches Email-Schild aus den 1950ern, Ø 45 cm
Marianis erfolgreiches Produkt fand mehrere Nachahmer, darunter einen gewissen John Stith Pemberton aus Atlanta/GA mit seinem «French Wine Coca»: der Vorgänger von Coca-Cola.
(wird erweitert und fortgesetzt)
Quellen:
• Die Online-Dokumentationen zur Geschichte von Evian bzw. Perrier
• Prof. Léon Binet, 1859—1959 Centenaire Evian-les-Bains
• wikipedia.fr zum Mineralwasser Evian
• Jaime Morrisons blog «the nonist» und sein Beitrag «Vin Mariani»
• Udo Pollmer, Susanne Warmuth: Lexikon der populären Ernährungsirrtümer — Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Halbwahrheiten von Alkohol bis Zucker, Piper Verlag 2009, ISBN 978-3-492-24023-9
• im Text erwähnte und eigene Unterlagen