Ende Oktober 2008 lud ich den «Wall Street Blues» hoch und war überzeugt: «Erstaunlich, wie JP Morgan — trotz der schieren Grösse und Macht — bisher immer für weises Augenmass stand und praktisch nur ein einziges Mal in Zusammenhang mit einem Fiasko gebracht werden kann: Als sich J. Pierpont Morgan zu Beginn des letzten Jahrhunderts massgeblich am Reederei-Trust ‹International Mercantile Marine Company› beteiligte, um das Seetransportgeschäft zu monopolisieren und namentlich den Bau dreier Passagierschiffe zu finanzieren; es waren die ‹Olympic›, die ‹Titanic› und die geplante ‹Gigantic›. Ob es das dramatische Schicksal des Ozeanriesen war, das Morgan gegen kopflosen Übermut impfte?».
… by Kate Ward Thacker — wonderful!
Knapp drei Jahre später, als die halbe Welt sich im hundertsten Gedenkjahr der Unsinkbaren am Meeresgrund erinnerte — andere Menschen kämpften derweil um Brot und Hemd —, setzten im Frühling 2012 ein paar überdrehte City Boys unbehelligt mehrere Milliarden in den Sand (und JPMs Börsenkapitalisierung rutschte als Folge rund 20'000'000'000 runter). Einfach so, ohne Betrug, in der zentralen Abteilung zur Risikosteuerung, in Jamie Dimons intimen Chief Investment Office — wow! Der Betrag war für dieses Haus zwar nicht lebensbedrohlich, aber dennoch peinlich bis penibel und kratzte deftig am bisher fast makellosen Ruf. Wenn selbst JPM nicht davor gefeit ist, wenn sogar dieses Unternehmen — und sein President/Chairman/CEO — heute mit solchen Risiken (und Mitarbeitern) derart schludderig umgeht, dann gute Nacht … und schliesslich folgte im Herbst 2013 wegen strittiger Hypothekargeschäfte die heftigste Busse über 13'000'000'000 of some lil green bucks; what a shame … anyway: «the London Whale» gab den Anstoss, die Titel der International Mercantile Marine Company etwas gründlicher zu betrachten, das Durcheinander der fast gleich aussehenden (aber unterschiedlichen) Papiere aufzulösen und sie einzeln vorzustellen; ich wollte diese Schublade zum Hundertsten endlich aufräumen.
JPMorgan Chase & Co., 2002; dieser Titel des Wall Street-Kolosses zeigt das
ehemalige Mutterhaus «The Corner» an der 23 Wall/Ecke Broad Street;
2000 verschmolz die Geschäftsbank Chase Manhattan mit der IB JPM
J. Pierpont Morgan gilt als einer der ganzgrossen Jäger der kapitalistischen Welt, und sein Haus ist bis heute ein Main Player im globalen Investment Banking (die Goldman guys & sisters blasen den hype «at the end of the day» sowieso in den Abgrund). In der Hochblüte waren rund 40% allen industriellen, gewerblichen und finanziellen Kapitals der USA in irgendwelcher Weise unter der Kontrolle seines «Money Trust». Dazu gehörten Unternehmen wie General Electric, die U.S. Steel Corporation — sie beherrschte lange das Stahlgeschäft und war damals die weltweit grösste Aktiengesellschaft —, International Harvester, Pullman, Maxwell-Briscoe Motor (die Basis für Chrysler), AT&T, u.a. die Eisenbahnen Lehigh Valley, Erie und Southern — damit die Hälfte des Streckennetzes —, die Zulieferer Westinghouse und Hersteller Baldwin Locomotive sowie der Schiffahrts-Trust IMM. 1895 und 1907 kaufte er als Kopf einer Investorengruppe in grossen Mengen Staatsanleihen der USA und rettete das Land vor dem Kollaps. Auch als Sammler und Visionär war der Banker mit der Kartoffelnase nicht kleinlich: Er soll für mehr als (damalige) 50 Millionen Dollar Kunst und Antiquitäten erworben haben, und unter seiner Leitung erreichte das New Yorker Metropolitan Museum of Art eine nie zuvor gekannte Grösse.
John Pierpont Morgan, ein Portrait des Zeichners Gribayédoff,
in: The Progress Of The World, 1901
Im Oktober 1902 übernahm der «Zeus der Wall Street» die International Navigation Company — sie war 1893 gegründet worden, um einen Liniendienst von Philadelphia aus nach Europa zu unterhalten —, änderte die Firma in International Mercantile Marine Company (IMM) und stockte das Aktienkapital von 15 Millionen Dollar auf je maximal 60 Millionen Stamm- bzw. mit 6% dividendenberechtigtem Vorzugskapital; plaziert wurden dann Common Stocks für 48 Millionen und Preferred für 54.6 Millionen. Gleichzeitig legte die IMM eine 4½%-Anleihe auf im Höchstbetrag von 75 Millionen, wovon schliesslich 52.594 Millionen gezeichnet wurden. Diese «Mortgage and Collateral Trust Gold Bonds» waren besichert durch ein Pfand auf Aktien und Obligationen der Untergesellschaften, und solange etwas ausstehend war, beschränkte diese Anleihe die Dividenden der Stammaktien auf 10%. So begann J. Pierpont Morgans ausgefeilter Versuch, mittels eines «Shipping Trust» die Schiffahrt des Nordatlantiks und schliesslich die Transportwege rund um die Welt zu beherrschen.
Northern Pacific Railroad Company, 1881,
Zertifikat über 100 Vorzugsaktien;
das Stück zeigt Portrait und Originalunterschrift von Frederick H. Billings;
ausgestellt auf Drexel, Morgan & Co.,
ist es rückseitig
signiert von J. Pierpont Morgan (dasselbe in Orange: die Stämme)
Doch (grob und kurz gefasst) geriet auch die IMM — wie die meisten Cornering-Versuche — rasch zur «All In»-Wette, zum fremdfinanzierten, kapitalintensiven Klumpenrisiko. Der freundlichen und weniger freundlichen Konkurrenz HAPAG, Norddeutscher Lloyd, Holland-Amerika und Cunard gehörten 225 Ozeandampfer mit einer Tonnage von insgesamt mehr als 1.2 Millionen, finanziert mit USD 68 Millionen in Aktien und 13 Millionen in Anleihen. Die IMM hatte zwar ein Aktienkapital von knapp 100 Millionen und weitere 70 Millionen aus Anleihen (rund 50 bei der IMM und 20 bei der Tochter INC), doch standen diesem Geldberg nur 133 Schiffe mit 992'000 BRT gegenüber. Der im harten Konkurrenzkampf unberechenbare Frachtverkehr war dermassen kostspielig (u.a. weil nette Regierungen mit Steuergeldern deftig die national-eigenen Gesellschaften düngten), dass Morgans überteuerte Schiffahrts-Holding nie aus eigener Kraft erfolgreich sein konnte.
Morgans Shipping Trust auf einem Kalenderblatt der IMM, 1904 (full)
Dann 1912 die Titanic-Katastrophe — sie geriet zur grandiosen PR-Schlappe, zum finanziellen Debakel —, und als Pierpont 1913 in Rom starb, hinterliess sein Tod ein unternehmerisch gefährliches Loch: Die Firma ging 1915 Konkurs und konnte sich nur Dank Kriegsaufträgen und Ausverkauf der Töchter über die nächsten Jahre retten, bis sie 1931 frisch kapitalisiert übernommen und schliesslich als Blinddarm der «United States Lines» entsorgt wurde.
beim einen oder anderen Titel sind noch Fragen offen,
doch die allermeisten Angaben sind durch Funde nachgewiesen
Zu den historischen Wertpapieren der IMM: Früher ging ich von etwa fünf, mag sein sechs unterschiedlichen Titeln aus. Heute kenne ich bei den Aktienzertifikaten grob sieben Gruppen (eingeteilt in insgesamt 31 verschiedene Unterarten) sowie zwei Anleihen in einer bzw. drei Stückelungen. Geläufig sind die endgültigen Aktienzertifikate ab 1930 mit der bekannten Hafenvignette und der geplanten «Gigantic», dem Schwesterschiff der «Titanic» und «Olympic». Ausgegeben wurden sie bis spätestens 1943 und zwar in drei Farben. Leider ist das Bild fast immer lochentwertet, dafür kosten die jüngsten «Titanic stocks» nur eine knappe Handvoll Dollars/Euros/Franken; sie können tagtäglich im HWP-Markt gekauft und in der Bucht an Land gezogen werden.
International Mercantile Marine Company, Typ VIIc, 1930er,
Zertifikat über 100 Aktien (drei Ausgaben)
Graphisch besonders attraktiv und auch gesucht, gleichzeitig durchaus seltener — und schliesslich rund zehn Mal teurer ist der wohl beliebteste «Titanic stock»: Typ V aus der Zeit 1916 bis 1929 mit der «Gigantic»-Hauptvignette und zusätzlich einer weiblichen Allegorie, der nachdenklichen Lady, der Maid. Ist es Rose hundert Jahre zuvor, das Mädchen am Bug? Egal, denn eine Rose ist eine Rose is a Rose …
IMM, Typ Va, 1917, Zertifikat über fünf Stammaktien (drei Ausgaben)
der äusserst seltene Typ Va+, ein «straw man certificate» von 1928
über 17'998 Stammaktien zu je $100 (back);
zu Thomas W. Joyces Strohmann-Funktion und generell zum IMM-Aktionariat
ein interessanter Artikel aus der New York Times
… und der SuperBigFatOne, ebenfalls ein Typ Va+ von 1916 über 179'207(!)
Commons zu USD 100 oder damaligen USD 17'920'700; knapp 100 Jahre später
entspricht das rund USD 365'730'000 — ein wahrlich dicker Brocken (stub)
NB. Vom Zehnerzertifikat (Typ Vb) gibt es eine Fälschung, deklariert als «replica certificate […] reproduction copy […] printed on antiqued parchment-like paper that looks and feels old» bzw. als «replica […] aged historical reproduction […] is printed on high quality parchment paper and has been aged to give it an old look and feel» oder anderes Geschwätz — alles Blahblah. Sie kosten zwar «nur» USD 6.99 (incl. s&h) bzw. 6.95, dennoch würde ich die Finger von solchem Zeugs lassen; sie sind das Porto nicht wert … Zurück zu den echten Stücken. Naturgemäss sind Vorzugsaktien seltener und auch bei dieser hübschen Emission weniger anzutreffen. Sie unterscheiden sich rasch erkennbar durch den Unterdruck «PREFERRED» (die Stammaktien sind — im doppelten Sinn — eher «common»).
IMM, Typ Vd, 1917,
Zertifikat über 50 Vorzugsaktien (drei Ausgaben)
Ein Glücksfall sind die sog. «Voting Trust Certificates» aus den Jahren 1902–06, in der Tabelle bezeichnet als Typ I. Diese Titel konzentrieren die Geschichte, denn sie zeigen den Zweck und nennen die Protagonisten: Morgan, seine Mitstreiter und die Macht im Nordatlantik.
IMM, Typ Ia, 1905, «voting trust certificate» über zehn Stammaktien,
mit Abbildung der geplanten «Gigantic» (common & preferred);
lautend auf/rs. signiert vom niederländischen Banquier Arnold T. Gilissen
Die Interims-Scheine der IMM sind unauffällig ohne Bild, deshalb kaum gesucht und noch weniger angeboten, doch diese Mauerblümchen sind seltene und interessante Zeugen des Wandels (und bis auf weiteres gelegentlich günstig zu haben). Es gibt drei Jahrgänge mit wahrscheinlich insgesamt elf Typen der nur kurzfristig gültigen Wertschriften.
IMM, Typ IIa, 1906, Interims-Schein für zehn Stammaktien (beide I-Scheine)
IMM, Typ IVb, 1915, Interims-Schein für 10 Stammaktien
(vier weitere Typen)
IMM, Typ VIa, 1929, Interims-Schein für zehn Aktien (alle drei I-Scheine)
Eine Sensation sind die erst kürzlich aufgetauchten¹ Stücke ohne Schiffsvignette, dafür mit stoischer Justitia und den zwei Globushälften, wie man sie von der «Marconi Wireless» her kennt. Die wahrscheinlich äusserst seltenen Wertpapiere erschienen nach der Restrukturierung von 1906 und sind als Stamm- sowie Vorzugsaktien bekannt. Die finanzielle Achterbahn der IMM zeigt sich auch bei den Trust-Zertifikaten: 1907 und 1912 musste das im Kartell gebundene Kapital für jeweils fünf weitere Jahre blockiert werden (die Titel sind entsprechend gestempelt), und 1915 wurde der Trust — wohl als Folge des Zinsverzugs vom 1. Oktober 1914 — vorzeitig aufgelöst. Warum wurde die Schiffsvignette bei den Titeln von 1907–15 ersetzt? Wahrscheinlich, um die «new extended certificates» einfach und eindeutig von der ersten Emission unterscheiden zu können. Doch weshalb bezeichnete man den «Harland and Wolff»-Vorsitzenden William James Pirrie unterschiedlich? Ich weiss es nicht …
IMM, Typ IIIa, 1908, «voting trust certificate» über zehn Stammaktien,
ausgestellt auf Adolph Boissevain & Co., eine Amsterdamer Investmentbank,
die 1875 als erste US-Titel an die dortige Börse brachte (drei Ausgaben)
… und schliesslich tauchte mit Typ IIId–h die «Doppelmaid» auf — oben Justitia, unten Rose —, eigentlich analog dem späteren Typ V, jedoch mit Mädel statt Dampfer. Hier kenne ich die braunen G-Stücke für die 10er-Stammaktien-Zertifikate (einmal ausgegeben und mehrfach als Blankett), die (so glaube ich) extrem seltenen grünen K-Scheine für <100 Aktien sowie je ein Druckmuster (Specimen) vom Typ IIIf, IIIg und IIIh.
IMM, 1909, ein extrem seltenes ausgegebenes Zertifikat über zehn Stämme (Typ IIIe, dazu ein nicht ausgegebenes Stück) |
IIId |
IIIf |
IIIg |
IIIh |
Schecks und Wechsel von Gesellschaften sind allgemein seltener als Aktien und Obligationen, doch entdecken Wühlmäuse solche Finanzdokumente ab und zu in irgendeiner Ablage. Von der IMM kenne ich weder Bankschecks noch Wechsel — nur einen Reisescheck als Einzelstück.
International Mercantile Marine Co., Travelers Check, 1914, USD 50
Wenig bekannt (weil ebenfalls selten) sind die Anleihen der Gesellschaft. Die zweite Gruppe bekannter Obligationen ist datiert ab 1916 in drei Nominalien, ohne Couponbogen und mit 23.5 x 34.5 cm rund einen Drittel auffällig grösser als die Aktienzertifikate (& vielleicht deshalb sogar zu USD 1'250+ angeboten). Bemerkenswert ist aber: Es sind gar keine gewöhnlichen Bonds, sondern «first mortgage and collateral trust sinking fund bond», also erstrangige Schuldscheine eines Tilgungsfonds oder gewandelte Zeugen eines Bankrotts. Diese Anleihen zeigen in der Vignette übrigens die typisch schwarzen Schornsteine mit dem weissen Band im oberen Drittel — das äussere Kennzeichen für Schiffe dieser Reederei oder genauer ihrer direkten Tochterunternehmen. Dieselbe geänderte Vignette mit dem weissen Band ziert auch alle Aktien-Emissionen des Typ V von 1916–29 (sie sind deshalb in der Tabelle beschrieben mit «main vignette — Gigantic w/r»).
IMM, 1924, Obligation Typ II über USD 1'000 in Gold zu 6% (der 10'000er)
Im März 2012 erschien ein spannend geschriebenes, aufschlussreiches Buch von Steven H. Gittelman. Der Gründer, Präsident und CEO von Mktg, Inc. (und einst Vorsteher der Dinosaur Society) war 15 Jahre lang auch President of the Board of Trustees des Suffolk County Vanderbilt Museum und verfasste in dieser Rolle zwei Vanderbilt-Biographien. Sein Buch über «J.P. Morgan and the Transportation Kings» enthält umfangreiches Material zur IMM, und er zeigt auf dem Umschlag sowie nach dem Schmutztitel, auf Seite v ein Musterstück der Obligation Typ I: der zwanzigjährige 4½%-Bond von 1902, knapp 100 Jahre später versteigert und publiziert.
Steven H. Gittelman,
«J.P. Morgan and the Transportation Kings:
The Titanic and Other Disasters»
Im Spätsommer 2015 kam ein zweiter Bond von 1902 unter den Hammer: Der 1'000er-Titel als einzige Emission ist weiterhin nur als Specimen in genau zwei Exemplaren bekannt — damit äusserst selten —, und er bildet mit den Trust Certificates das Nonplusultra der sog. «Titanic stocks», denn am 1. Oktober 1914 und am 1. April 1915 konnte IMM die fälligen Zinsen genau dieser Anleihe nicht bezahlen: die unmittelbare Ursache, weshalb die Firma hopsging und 1915 saniert werden musste.
International Mercantile Marine, 1902, Obligation Typ I über
USD 1'000 in Gold zu 4½% (Vignette, Mantel, Coupons 1902/16)
Schliesslich: Zwei Jahre vorher, im Herbst 2013 war an einer Auktion ein frisch entdeckter «Gold Bond» aufgetaucht: ein Specimen datiert am 1. Oktober 1916, hochformatig und grafisch dem Titel Typ I von 1902 sehr ähnlich gestaltet. Zusammen mit der Ausgabe zu USD 500 in Rotorange — ebenfalls nur als Druckmuster bekannt — wurden insgesamt drei Exemplare in einem Archiv gefunden. Da ausgegebene Obligationen dieser Art nirgends verzeichnet sind und sie als Anleihe in den Bedingungen den querformatigen Stücken Typ II entsprechen, nehme ich an: Die hochformatige Ausgabe Typ II-S gibt es nur als äusserst seltenes Muster — sie wurde nie ausgegeben, sondern durch die querformatigen ersetzt, damit sie keinesfalls mit den Titeln der ersten Anleihe von 1902 verwechselt werden.
IMM, 1916, Obligation Typ II-S über USD 1'000 in Gold zu 6%
(Vignette, mit dekorativem Coupon; dazu der orangerote 500er)
Das zuständige «U.S. District Court for the Southern District of New York» setzte 1915 IMM-Vizepräsident P.A.S. Franklin als Konkursverwalter ein. Franklin leitete ein komplexes Verfahren unter Beteiligung mehrerer Committees der verschiedenen Anlageklassen, das schliesslich am 3. August 1915 zum «Plan and Agreement of Reorganization», dem Tilgungsfond führte: Die notleidenden Schuldscheine wurden von alten USD 1'000 zu 57% gewandelt in neue sog. «6% first mortgage and collateral trust sinking fund bonds» mit USD 570 alten Kapitals plus 430 Bareinschuss sowie 112.50 Zinsverzicht, d.h. die ursprünglichen USD 1'000 nominal ergaben neu mit kräftiger Nachzahlung und Dreijahres-Zinsverlust die gehabten 1'000. Dem Handel stimmten gezwungenermassen die meisten Gläubiger zu: Von 50 Millionen wurden 40 Millionen umgebucht, auf 25 Jahre, fällig am 1. Oktober 1941; so entstanden die weiter oben gezeigten Anleihen Typ II. Auch die Kapitalgeber des «Voting Trust», die Manager des schiefen Imperiums mussten bluten: Der Trust wurde ebenfalls 1915 zerschlagen, die besonders mächtigen Zertifikate getauscht in gewöhnliche Stamm- und Vorzugsaktien (klassiert als Typ V).
Philip Albright Small Franklin, in: World Traveler, um 1930
1926 entschloss sich die IMM, alle Aktien der Tochtergesellschaft Oceanic Steam Navigation Co., Ltd. (i.e. der White Star Line, unter deren Flagge auch die Titanic fuhr), an die englische Royal Mail Steam Packet Co. für USD M35 zu verkaufen — 15 Millionen weniger, als sie selbst 1902 bezahlt hatte. 1931 erwarb die Roosevelt Steamship Company die Mehrheit an der IMM; Kopf der 1920 gegründeten Gesellschaft war Kermit Roosevelt, Geschäftsmann, Offizier, Schriftsteller und Sohn von U.S. President Theodore «Teddy» Roosevelt.
Scheck der U.S. Lines-Niederlassung in London,
vorgesehen zur Unterschrift der Roosevelt Steamship Company, Inc., 1934
1935 fusionierten die beiden Unternehmen, die IMM erwarb dann (als reine Holding) die United States Lines Co., und im Mai 1943 gingen schliesslich die Reste der einst mutig-hochmütigen International Mercantile Marine mittels Umfirmierung in Roosevelts neue United States Lines über.
United States Lines, Inc., 1936, Zertifikat über 50 Vorzugsaktien,
mit Vignette der «S.S. Leviathan» (das 100er-Stück)
Die frühen Titel der USL zeigen die «S.S. Leviathan»: Bei Blohm & Voss in Hamburg für die HAPAG gebaut und 1913 als «Vaterland» vom Stapel gelaufen, wurde sie 1917 vom U.S. Shipping Board beschlagnahmt und nach dem Ersten Weltkrieg als Reparationsleistung den USA zugesprochen. Dieses grösste jemals unter deutscher Flagge gefahrene Passagierschiff — es ist zugleich das mächtigste mit Kohlefeuerung betriebene Dampfschiff der Geschichte — wurde 1938 verschrottet. Die Manager der wiederholt reorganisierten IMM/USL hatten aber die Lektion anscheinend nicht gelernt: Sie gaben 1952 unter enormem finanziellen Aufwand den Auftrag zum Bau der «S.S. United States», des grössten je in den Vereinigten Staaten gebauten Passagierschiffs — eine Totgeburt, denn genau zu jener Zeit startete die Luftfahrtindustrie ihren erfolgreichen Flug im Langstrecken-Geschäft. Immerhin fand die USL in der Containerschiffahrt neues Einkommen für weitere drei Jahrzehnte, bis auch sie 1986 Konkurs ging und 1992 liquidiert wurde — neunzig Jahre nach der Geburt von JPMs weltumfassenden Trust. Sind unter dem Strich fast 100 Jahre mehrfarbiger Geschichte ein Erfolg oder doch kein Gewinn? Sowohl die privat finanzierte IMM als auch die staatlich geförderte USL waren grossartige, aber grossspurige Visionen einer überheblichen Allmacht, wie sie historisch betrachtet über kurz oder lang immer wieder scheitert; die papiernen Zeugen sind auch deshalb faszinierend, weil jede Epoche — auch unsere Zeit — ebensolche Geschichten schreibt.
United States Lines Company, 1957, Zertifikat über zehn Aktien
(pic) |
US Lines scripts |
US Lines temps1 |
US Lines temps2 |
S.S. United States |
Der IMM gehörte die American, die Atlantic Transport, die Dominion und die Leyland Line sowie die bekannteren zwei, die amerikanische «Red Star Lines» und die britische «White Star Line, Ltd.» (unter ihrer Flagge fuhr die R.M.S. Titanic). Die wenigen mir bekannten Titel der Red Star sind einfach gestaltet, genauso wie das typisch englische Papier der White Star — gesucht sind sie dennoch, wegen der Seltenheit und des Namens (sowie beim britischen Exemplar: der kleinen Vignette mit der berühmten Flagge).
Red Star Lines, 1927, Zertifikat über eine Stammaktie
White Star Line, Ltd., 1927, Zertifikat über 40 6½%-Vorzugsaktien
Im Zusammenhang mit der Katastrophe werden auch die Marconisten Jack Phillips und Harold Bride stets genannt, denn Dank ihrer Funksprüche (u.a. zur R.M.S. Carpathia) konnten mehr als 700 Passagiere aus den eisigen Fluten gerettet werden: «Those who had been saved, had been saved through one man, Mr. Marconi and […] his marvellous invention», so der damalige Postmaster General Right Hon. Herbert Samuel. Die 1899 gegründete amerikanische Firma war kontrolliert durch die britische Marconi's Wireless Telegraph Company, Ltd., doch die Amerikaner goutierten politisch-militärisch die fremde Aufsicht überhaupt nicht, und so ging 1919 die US-Marconi unter Führung der (zufälligerweise von J.P. Morgan kontrollierten) General Electric in die neu gegründete Radio Corporation of America (RCA) über.
Marconi Wireless Telegraph Company of America, 1913, ausgestellt auf Swiss Bankverein (back), sowie das eher seltene Hunderter-Zertifikat |
5 colors |
Guglielmo M. |
rare U.S. 1910 |
Marconi CDN |
Marconi GBR |
Marconi EGY |
RCA |
Marconi Tower |
Eine hübsche Ergänzung sind auch die Titel der Mitbewerber und Gegenspieler, wie die beiden deutschen Reedereien HAPAG und Norddeutscher Lloyd — sie schlossen mit Morgans Trust einen Kooperationsvertrag über zehn Jahre ab, «um einen übermässigen Wettbewerb zu vermeiden» (wie Wiki schreibt ;-) — sowie die britische Cunard, die Holland-Amerika-Linie und die französische Transat.
Norddeutscher Lloyd (Bremen), 1933, Bond USD 1'000 |
Norddt. Lloyd I |
Norddt. Lloyd II |
HAPAG |
CGT |
Cunard |
Cunard fakes |
pre-HAL |
HAL |
Selbstverständlich verziert kein Staat seine Banknoten mit der «Titanic» — bekanntlich ist Papiergeld wie Granit, härter als jeder Eisberg und demzufolge unsinkbar (wer ketzerisch die Hinterfrage wagt, ist sowieso ein goldiger Banause) —, aber es gibt eine «private issue note» der New Jason Islands mit dem Unglücksdampfer drauf. Der Brite Leonhard «Len» W. Hill hatte im März 1970 die drei unbewohnten Inseln Grand Jason Island, Steeple Jason Island und Clarke's Islet im äussersten Nordwesten der Falklandinseln für GBP 5'500 erworben (ohne Schafe, denn sonst hätte er 10'000 hinlegen müssen). Hill, der schon den «Birdland Zoo Gardens» in Burton-on-the-Water/Gloucestershire gebaut hatte, wollte die Inseln als Vogelschutzgebiet sichern, und zur Finanzierung druckte er bereits 1970 «Briefmarken» sowie ein paar Jahre später «Noten» als Spendenquittung. Nach Hills Tod 1994 kauften der New Yorker Philantropist Michael H. Steinhardt und seine Frau Judy die Inseln, um sie 2002 der zum Bronx Zoo gehörenden Wildlife Conservation Society zu vermachen. 2012 erschien die Dreierserie der «Disaster Notes» mit der Titanic auf der höchsten Wertstufe. Zum Hundertjährigen kamen weitere «Titanic novelty bills» auf den Markt; die beiden schönsten sind unten angefügt.
New Jason Islands/Islas Nuevas Sebaldes, 2012, Note über 500 Australes |
S.S. E. Fitzgerald |
Hindenburg |
Titanic 100 |
Titanic M$B |
Ein Titel unserer Zeit gehört in jede zünftige Titanic-Sammlung: Das Zertifikat der RMS Titanic, Inc. — yep, der Gesellschaft mit dem ausschliesslichen Eigentums- und Bergungsrecht am wohl berühmtesten Wrack (und auch an der «RMS Carpathia», die an der Rettung von Titanic-Passagieren teilgenommen hatte und im Ersten Weltkrieg von einem deutschen U-Boot versenkt wurde). Die Tochter der amerikanischen Premier Exhibitions, Inc. und ihre Vorgängerinnen führten zwischen 1987 und 2004 sieben Expeditionen durch und bargen über 5'500 Objekte; die meisten dieser Fundstücke kommen wohl unter den Hammer, und herausragende Archivalien werden auf Wanderausstellungen gezeigt. Anyway, das Wertpapier der «RMS Titanic, Inc.» ist schlicht das scripophile i-Tüpfelchen, denn nur dieses Zertifikat zeigt die Titanic 1:1.
RMS Titanic, Inc., 1994, Aktie über USD 0.0001(sic!);
im Unterdruck: Die «Titanic» verlässt Cherbourg mit Ziel Queenstown
(dem heutigen Cobh) in Irland, wo sie am 11. April eintreffen wird
Abrunden kann man eine Titanic-Sammlung mit den historischen Wertschriften der Film-Co-Produzenten Paramount und 20th CentFox. James Camerons Werk verschlang rund 250'000'000 Dollar (und damit 100 Millionen mehr als veranschlagt), brachte aber bis heute mehr als 2 Milliarden ein, holte mit 14 Nominierungen elf Oscars und weltweit sogar fast 100 Auszeichnungen. Man mag motzen wegen Kitsch & Kommerz, der Kosten usw. — der Film ist schlicht ein riesiger Erfolg, der auch 15 Jahre später die Menschen fasziniert (und die Kassen weiter klingeln lässt).
Paramount Pictures Corporation, 1966, Zertifikat über 100 Aktien
Twentieth Century-Fox Film Corp., 1978, nachrangige Anleihe 1978–98,
der Bond zu USD 10'000 zeigt einen bemerkenswerten Zins von 10¼% und
ist damit auch ein Zeuge der Inflation unter Richard Nixon (the girl);
das weltberühmte Logo zeigt auch der recht seltene Interims-Schein
Auf knapp 150 Millionen pages, in mehr als 3'000 Büchern, mindestens zehn Spielfilmen und ungezählten Dokumentationen sowie einer Daily Soap sinkt die Metapher fürs Desaster seit 100 Jahren immer und immer wieder (und Mattel brachte 2007 sogar eine «Barbie Rose» auf den Markt :-) Die Scripophilie entdeckte 2012 die Titel erneut, und der Handel vermarktet sie nun viel gezielter: «Titanic stocks are disappearing from the market faster than a sinking ship!!!»² — das mag leicht übertrieben, aber auch nicht ganz falsch sein: Die jungen Aktienzertifikate (Typ VII) sind weiterhin billig, und Typ V ist gegenwärtig bezahlbar, doch die ersten Bonds bleiben praktisch unauffindbar, die Obligationen Typ II sind äusserst selten, sämtliche Trust-Zertifikate werden kaum mehr angeboten, und vor allem ausgegebene Titel mit der Justitia/globes-Vignette — egal in welcher Stückelung — sind mehr als selten aka nirgends zu finden. Diese Papiere waren schon immer Raritäten, doch ist es gut möglich, dass die paar Restexemplare wegen des 12. April 2012 zusammengekauft und damit für lange Zeit versenkt worden sind.
Quellen:
¹ Fritz Ruprecht (HIWEPA/Helvetic Star) belehrte mich im Januar 2013 ungewollt eines weit Besseren: Er zeigte mir George Haley Garrisons Broschüre vom Frühling/Sommer 1989
² Robert, boss of collect-a-thon (formerly «The Little Stock Exchange of Wall Street»)
• J. Bradford De Long, J.P. Morgan And His Money Trust, Harvard University and National Bureau of Economic Research, 1991–95
• Harry Alonzo Cushing, Voting trusts: a chapter in recent corporate history, New York, The Macmillan company, 1915
• M.J. Fields, The International Mercantile Marine Company — An Ill-Conceived Trust , The Journal of Business of The University of Chicago, Vol. 5/No. 4/Part 1/pp. 362–379, October 1932 (published online by The University of Chicago Press/JSTOR)
• Steven H. Gittelman, J.P. Morgan and the Transportation Kings: The Titanic and Other Disasters, University Press of America, Inc., 2012
• John Moody (Editor of «Moody's Manual of Corporation Securities»), The Truth About the Trusts — A Description and Analysis of the American Trust Movement, Moody Publishing, 1904
• Paul Overzier, Die Entwicklung der International Mercantile Marine Company (Amerikanisch-Englischer Schiffahrtstrust), Weltwirtschaftliches Archiv, 12. Bd., 1918, pp. 80–86, published by Springer
• Earl A. Saliers, Some Financial Aspects of the International Mercantile Marine Company, Journal of Political Economy, Vol. 23/No. 9/pp. 910–925, Nov. 1915 (published online by The University of Chicago Press/JSTOR)
• Earl A. Saliers, The War and the International Mercantile Marine Company, Journal of Political Economy, Vol. 24/No. 10/pp. 1003–1011, Dec. 1916 (published online by The University of Chicago Press/JSTOR)
• The New York Times, online archive: April 7, 1916; April 19, 1916; August 12, 1916; March 5, 2002
• Tom Chao's Paper Money Gallery: «The World of Paper Money»
• im Text genannte und eigene Unterlagen