«das kunstwerk/the work of art», 8/XVIII, Februar 1965, 27.0 x 21.4 cm,
abgebildet das Werk «HOPE 33», 1964, Cachetage, 58 x 70 cm
Zu Anfang des Jahres 1961 veröffentlichte Werner Schreib, zusammen mit dem Italiener Luciano Lattanzi, seine Sätze über die «Semantische Malerei». «Das semantische Bild», so heisst es da, «nimmt in der Interpretation Bezug auf die „Zeichen“, wie sie zum Beispiel in der gestualen Malerei von Hans Hartung eine elementare Rolle spielen … Wenn man die Bilder Hartungs auf ihre Bestandteile oder Elemente hin analysiert, wird man feststellen, dass in ihnen ein immer wiederkehrender Codex von Zeichen auftaucht. Dieser Tatbestand ist keineswegs neu. Entkleidet man die Hartungsche Geste ihrer Faktur, so bleibt als Residuum ein Skelett. Das ist das, was wir als Grundgeste definiert haben … Hier setzen unsere Bemühungen an. Wir haben erkannt, dass es sich immer wieder um die gleichen elementaren Formen handelt: Vertikale, Horizontale, Zickzack, Ondulation, Spirale — … Im Bild erscheint uns die „Kontinuität der bildnerischen Elemente“ (Leisberg), d.h. die Reihung und multiplikatorische Funktion allein nicht ausreichend. Wir müssen zu höheren Graden poetischer Vielfalt und Verzauberung durchstossen. Die Juxtaposition der Grundgesten ist ein höherer Grad der Verdichtung und deshalb typisch für unsere Arbeiten. Wir wissen zwar, dass der Gestus emotionalen Ursprungs ist, dagegen ist die Reihung der Geste, die Addition, Multiplikation und Juxtaposition ein zulässiges Mittel rationaler Durchdringung, abgeleitet aus der Vielfalt der Möglichkeiten, die im Informel und in der Action-painting enthalten sind.»
«Vignette», 1957
«Semantisches Bild mit phantastischer Malerei», 1961,
Mischtechnik, 80 x 115 cm
«L'oeil», 1964, Cachetage und Pelzassemblage, 24 x 22 cm
Schreib hat für seine Malerei, wenngleich sie ihre Wurzeln in der Freiheit des Informel hat, eine Gesetzmässigkeit formuliert, deren theoretische Konsequenz in den Bildern selbst evident wird. Diese optische Rationalität, oder um einen Begriff Henry Kahnweilers anzuführen — diese «peinture conceptuelle» indes provoziert sogleich die für Schreibs Malerei entscheidende Frage, inwieweit die Organisation von «Grundgesten» über deren blosse Faktizität hinauszuweisen vermag? Denn die Grundgesten sind, wie auch Schreibs Hinweis auf Hartung belegt, bislang gleichsam nur der Rohstoff für den Maler gewesen. Bildnerisch relevant wurden sie aber erst durch jene individuelle Überformung, die Schreib gerade ablehnt. Seine Arbeiten sind, wie er selbst einmal bemerkt hat, im Sinne einer persönlichen Handschrift durchaus anonym, das Herstellungsverfahren in seinen entscheidenden Phasen halbmechanisch. Da wird auf eine Leinwand oder eine Holztafel zunächst eine Kunstharzpaste aufgetragen. Bei diesem ersten Arbeitsgang bereits entstehen, bedingt durch den vielfachen Ansatz des Spachtels, bestimmte Gliederungen zumeist flächigen Charakters; kleinformatige Felder, die durch leichte Randerhöhungen voneinander abgesetzt sind. Dieses Relief nun wird im weiteren Herstellungsprozess artikuliert, d.h. durch eine Vielzahl von «semantischen» Kleinformen, den Grundgesten eben, aufgegliedert; „durch ein Arsenal von objets trouvés, die zum Siegeln verwendet werden: Schrauben, Hülsen, Muttern, Zahnräder, Winkeleisen, Muffen, perforierte Bänder, Verschlüsse und dergleichen — Relikte der technischen Welt, die in ihren präzisen Abdrucken das erwähnte Zeichenalphabet wiederholen“. Zum Schluss endlich wird dieses planvoll organisierte Relief mit Farbe überzogen, deren verschiedene Nuancen Eindrücke und Aufwölbungen des Reliefs in ihrem gespannten Zueinander unterstreichen sollen. Oft lassen die Reliefkomplexe an den Seiten des Bildes jeweils eine siegelfreie Zone stehen, deren farbige Intonierung dann vielfach im monochromen Kontrast zur Farbe der Mittelzone gehalten wird.
«Education sadique», M-1/63, 1963,
Cachetage auf Hartfaserplatte, 98 x 70 cm
«L'organisation arithmétique», 1963, Cachetage, 62 x 84 cm
(ebenfalls abgebildet im Faltprospekt der Galerie Rothe Wolfsburg, 1967)
Miniaturen, 1964
Das Formenarsenal ist, entsprechend der Theorie der Grundgesten, beschränkt und kann in sich auch kaum variiert werden — höchstens etwa durch Hinzunahme neuer und anderer objets trouvés. Kehren wir zu unserer Frage zurück, so ergeben sich als bestimmende Momente — in der Folge des Herstellungsverlaufs — die flächige Gliederung der Paste zunächst, sodann, in der Variationsfähigkeit wesentlich schmaler, die Zuordnung der verschiedenen «Siegel» oder Grundgesten zueinander und zuletzt, mit breiterer Möglichkeit wieder, die farbige Intonierung. Die Reihung der Siegel, die Regelmässigkeit der ihrer Addition, die Symmetrie oft ihrer Abfolge gerät genau an dieser Stelle in einen konstruktiv kalkulierten Widerspruch zur Farbe, die sie zwar stellenweise akzentuiert, die zugleich aber auch ein in sich geschlossenes Netz von Beziehungen ausbildet, das allein chromatischen Gesetzen unterliegt. Es entwickelt sich eine oftmals kontrastreiche Zweischichtigkeit der Bilder, in deren Spannungsfeld die optische Rationalität an allgemeiner Überschaubarkeit verliert. Dadurch gewinnen die Arbeiten von Werner Schreib jene bildnerische Relevanz, für die das organisierte Grundmuster Basis und nicht schon im Dekorativen sich erschöpfender Selbstzweck ist. Stufenweise hellt sich das Dunkel der Anonymität auf und die ursprünglich absichtsfreien «Grundgesten» bekommen plötzlich eine Funktion zugewiesen, die über ihre addierte Erscheinungsform klar hinausweist. Ihr Determinismus, die Konsequenz ihrer Versammlung wird im farbigen Licht der jeweils individuellen Übertönung zum Phantasievollen hin gelockert, ohne damit der strengen Kontrolle enthoben zu sein. Die zahlenmässige Beschränktheit der «Grundgesten» wird überführt in ein vielstufiges Beziehungssystem, das zwar für sich gesehen eine gewisse Mobilität der Reflexion ermöglicht, aber im ganzen eher stabil ist. Nicht ohne Grund hat Umbro Apollonio die Bilder Werner Schreibs «Petrefakte des Informel» genannt. Da ist nichts mehr von jener informalen Spontaneität, die so gern als ein Kronzeuge der menschlichen Freiheit banalisiert worden ist. Die Petrefakte machen gerade die Bedingtheit dieser Freiheit deutlich. Die unpersönliche Rationalität der «semantischen Siegel» und das damit gegebene Moment planvoller Kontrolle — das ist bei Schreib nur der tragende Grund einer Konzeption, die das Mechanische künstlerisch verfügbar macht. Was zuerst anmuten mag wie eine mechanische Registrierung, erweist sich dem näheren Zublick als die Suche nach den sinngebenden Strukturen des Mechanischen. In ihrem Kern sind sie stabil, variabel und mobil aber im Beziehungsgeflecht ihrer Erscheinungsform.
«Alignement», 1964, Cachetage und Assemblage, 22 x 18 cm
ohne Titel, 1963, Cachetage, 62 x 84 cm
Betonrelief für eine Wand, 1964, H 120 cm
Und doch erhebt sich mitunter gegen diese Bilder der Einwand der Starrheit. Er windet sich weniger gegen das Prinzip der Herstellung, als gegen die gelegentlichen Wucherungen der Ausformung, wobei unter Wucherung hier nicht Planlosigkeit zu verstehen ist, sondern übermässige Reihung vieler verschiedener «Grundgesten». Die nämlich widerspricht nicht allein Schreibs Grundgedanken der bildnerischen Disziplin des Mechanischen, sondern stellt auch die Funktion und somit Notwendigkeit des Reliefs in Frage. Dadurch wird jene Zweischichtigkeit der Bilder, die für Schreib konstituierend ist, aus ihrer spannungsvollen Balance gehoben, die dann auch das Gegengewicht der Farbe nicht mehr voll aufzufangen vermag. Darin zeigen sich — man ist versucht zu sagen: die mechanischen Grenzen der «semantischen Malerei». Abgesehen davon jedoch weisen Werner Schreibs Bilder eine erstaunliche ästhetische Differenziertheit auf.
(Rolf Wedewer, das kunstwerk/the work of art, Nr. 8/XVIII, Februar 1965,
SS. 10-16, Agis-Verlag, D-Baden-Baden)
Werner Schreib bei der Arbeit an einem Wandbild,
Musiksaal-Foyer, Bad Salzhausen, 1962/63