Welcome to Hans Erni!

Diese page ist kein Versuch, Hans Ernis Weinetiketten zu katalogisieren oder gar seine «bacchantischen Arbeiten» kunsthistorisch abzuhandeln. Sie ist schlicht das Protokoll eines neugierigen Spaziergangs. Die unterwegs gezeigten Werke und Belege sowie die (möglichst) chronologisch geordneten Etiketten sind Wegmarken der Entdeckungen und Begegnungen.


vivat Bacchus!
(2009 hochgeladen, 2010—15 und 2017—19 mit zusätzlichen Einzelheiten und Bildern sowie 2020 mit einem weiteren Zeitungsartikel ergänzt)


Die Rebe, die Traube, der Wein — ein Thema, das seit vielen Epochen in jeder Kunstform auftaucht. Dieses Kulturgut fasziniert auch Hans Erni, und widmet er sich sonst eher der griechischen Mythologie, wählt er hier als Motiv fast immer den römischen Weingott Bacchus und sein Gefolge. Schliesslich war es das Imperium Romanum, das durch seine Feld- und Eroberungszüge die Kunst des Kelterns in Europa verbreitete. Zu Beginn steht aber (wie nicht selten) der Bezug zum legendären «Landi-Bild», einem Schlüsselwerk des Malers.

«Studie Landi 1939»
«vendanges, paysage et loisirs», 1938,
Entwurf fürs gewaltige Fresko zur Schweizerischen Landesausstellung 1939
mit dem Titel «Die Schweiz, das Ferienland der Völker» (eine Studie)

Hans Erni ist ein waschechter Innerschweizer und gleichzeitig der lateinisch-französischen Kultur sehr verbunden. Vielleicht, weil er in Paris grosser Kunst und bedeutenden Künstlern begegnete, weil ihn die Sprache und Literatur fasziniert, weil er im Südosten Frankreichs, in Saint-Paul de Vence eine zweite Heimat fand? Offenbar hatten die Romands ihrerseits weitaus weniger Mühe mit seiner Person und seiner Kunst als die deutsche Schweiz. Zwar hat ihn auch das Welschland zuweilen kritisiert (Hans Erni war und ist diskussionswürdig — eigentlich ein Kompliment, btw), doch die süffisanten Zeitungsartikel, gehässigen Leserbriefe und zotigen Pamphlete sind allermeist in Deutsch verfasst. Das Welschland hiess ihn stets willkommen, nie vermaledeite man ihn zu «Moskau einfach» — und selten verglich man Äpfel mit Birnen. Erni hat stetig in der Romandie ausgestellt, dort trifft man auf erstaunlich viele seiner öffentlichen und privaten Arbeiten, und auch diese Zeilen berichten fast ausschliesslich von ennet der Saane.

«La Guilde du Livre»
«… rayonnante!», 1956, Plakat für La Guilde du Livre, Lausanne,
Offset mehrfarbig, 128 x 90 cm, WV 74

Zurück zum Thema. Hans Ernis erste mir bekannte Weinetikette zierte 1979 einen Mont-sur-Rolle aus dem Domaine de la Bigaire, eine Sonderabfüllung von Hammel SA im Auftrag der Hans Erni-Stiftung zur Eröffnung des Museums. Den Weisswein «Fondation Hans Erni» findet man über zehn Jahre, bis zum 1988er, als die Zukunft dieses Rebgutes wegen einer Heirat fraglich geworden war. Unter dem jetzigen Besitzer A.-L. Deliaz-Rolaz (aber weiterhin in Zusammenarbeit mit Hammel) pflegt dieser traditionsreiche Domaine die Trauben auf biologische und sog. biodynamische Weise — so wird der weisse Mont s/Rolle de la Bigaire (ohne Erni-Etikette) heute als Bio-Wein exklusiv über Coop vertrieben —, und knapp 20 Jahre später entdeckte man das sich betrachtende Paar im sechseckigen Grundriss des «Hans Erni»-Museums wieder und verwendet es nun für die Rotweine aus demselben Domaine: den Pinot Noir Grand Cru und die Merlot/Cabernet-Assemblage.

«Domaine de la Bigaire — Mont sur Rolle»
ohne Titel (Bacchus und Ariadne?), 1979, sowie die Folge-Etikette;
gegenwärtig wird die Etikette Typ I ausschliesslich für zwei Rotweine
des «Domaine de la Bigaire» verwendet: die Cuvée und den Pinot Noir

Hammel SA ist das gemeinsame Unternehmen zweier Winzerfamilien seit Mitte des letzten Jahrhunderts, als sich der Weinbauer Charles Auguste Rolaz kurz nach der Gründung der Gesellschaft 1947 mit Richard Hammel zusammenschloss. Ernis Etikette Typ II verwendete die Kellerei erstmals um 1980, in der Ära Charles Rolaz für ein paar Weine aus dem Domaine de Crochet; sie sind einfach zu erkennen, denn sie tragen den Namen des Eigentümers und sind mit einem Goldrand verziert.

«Crochet grand vin
ohne Titel (Bacchus und Nymphe?), um 1980 (die Halsetiketten 1984/87);
die Etikette Typ II, erste Serie für Hammel unter Charles Rolaz,
die Nachfolgerin sowie ein Salvagnin (Periode Charles Rolaz)

Merlot Grand Cru
Pinot Noir Grand Cru
Sextuor Grand Cru
Cuvée Charles Auguste
Merlot
Grand Cru
Pinot Noir
Grand Cru
Sextuor
Grand Cru
Cuvée
Charles Auguste


Hammels Zugpferd ist der Domaine de Crochet, wo heute auf einer Fläche von zehn Hektaren die Rebsorten Chasselas, Chardonnay, Riesling, Viognier, Cabernet Franc, Cabernet Sauvignon, Gamay, Merlot, Pinot Noir und Syrah angebaut werden. Zusammen mit Charles Rolaz' Nachfolger Michel, entwickelte Hammel um die Jahrhundertwende eine Marketing-Strategie mit einer eindeutig erkennbaren Produktefamilie: Sämtliche Weine des Domaine de Crochet zeigten durchgehend die Erni-Etikette Typ II, im klaren, vereinfachten Design ohne goldfarbene Umrandung, aber mit zusätzlichen mattgoldenen Partien. Waren die Etiketten der zweiten Generation zunächst noch gerundet, so sind sie heute alle rechteckig und mit glänzend-goldenem Prägedruck veredelt (z.B. die seit 2007 in Grün gehaltene «Merlot»-Etikette). Ebenso tragen die beiden Weissweine des Domaine de Crochet die Erni-Etikette Typ II.

«Domaine de la Bigaire»
Hammels Chasselas aus dem Domaine de Crochet
(die heutige Version, die Halsetikette) und der superbe Chardonnay

Wer einen Domaine de Crochet aufmerksam entkorkt, findet Ernis lukullisches Paar ein weiteres Mal, und dass die Caves Hammel an diesen erlesenen Tropfen mit der bacchantischen Erni-Etikette erkannt werden wollen, zeigen auch der Katalog 2009 sowie die Einladung zum «Degustations-Festival» Ende November 2009.

«catalogue Hammel»
ein gespiegelter Ausschnitt der Etikette Typ II (der ganze Umschlag)

Einige der unzähligen Erni-Ausstellungen waren bacchantisch geprägt (u.a. «Les Vendanges», 1976 in den Hochburgen Bordeaux, Colmar und Reims gezeigt, sowie 1988, «l’uva, sotto il torchio … tipografico/Hans Erni, La vite — il vino», im Gemeindehaus Gudo/TI), und es gibt Plakate und Kunstkarten, deren Sujets zum Thema passen.

Colmar 1976
«Les Vendanges», 1976, Plakat zur Ausstellung in Colmar,
Offset mehrfarbig, 60 x 42 cm, WV 194

«Bacchus Dans Les Vignes»
«Bacchus Dans Les Vignes»,
Kunstkarte J.J. Hummel 1960, Editions Hedimot, Basel;
nach der Lithographie «Bacchus im Weinberg», 1955, WV 186;
empfehlenswert das viersprachige Werkverzeichnis «erni lithograph»

Weltweit bekannt und berühmt ist Hans Ernis Mouton Rothschild-Etikette, sein Beitrag zur «Académie Rothschild». Unzählige Seiten speichern dieses Thema (und ich will nicht strapazieren), deshalb nur kurz: Der Portraitist par excellence schuf 1986 ein Sinnbild des Baron Philippe de Rothschild als traubengeschmückter Mouton — ungeahnt ein künstlerisches Vermächtnis, denn 1987 sollte die letzte Ernte sein, die der Gutsbesitzer einfahren konnte.

«Etikette Château Mouton Rothschild»
der erste von Baronin Philippine signierte Jahrgang:
Château Mouton Rothschild 1987, ein seltenes Druckmuster;
dazu die Etiketten fürs Halbeli und die Magnum, die Photolitho und
Thierry Paulis Erläuterungen sowie die Rückseite des äusserst
seltenen Probelaufs zur 1995 ausgegebenen AKSV-Erinnerungskarte

1989 stellte das Hans Erni-Museum diesen Mouton Rothschild unter dem Titel «Vendanges» vor, zusammen mit Entwürfen und ausgeführten Arbeiten.

Baronesse Philippine de Rothschild et Hans Erni
Baronesse Philippine de Rothschild-Sereys und Hans Erni präsentieren
am 30. November 1989 eine zweifach handsignierte Nebukadnezar

Ein paar wichtige Stationen im Leben Hans Ernis sind eng verknüpft mit den Vereinigten Staaten. Im Anschluss an die Ehrung durch die United States Sports Academy in Daphne/AL 1989, begann Raymond Burr in New Orleans einen Dokumentarfilm über den Künstler — und Erni malte 1993 ein Portrait Burrs, das an der Ausstellung in der Pence Gallery in San Francisco vorgestellt wurde. Eine hübsche Fügung, denn der «Krewe of Bacchus», New Orleans' berühmtester Karnevalsverein hatte den bekannten Schauspieler und Produzenten an der Mardi Gras-Parade vom 7./8. Februar 1970 als King Bacchus II gefeiert.

«Hans Erni and Raymond Burr, 1989»
Hans Erni und Raymond Burr anlässlich der Ehrung durch die USSA, 1989

Bevor Raymond Burr seinen Weg zum Theater und schliesslich nach Hollywood fand, hatte er einiges erlebt: Aufgewachsen in China, Kanada und den USA, besuchte er die Universitäten in Chongqing, Stanford und Columbia. Um die Mutter und seine Geschwister zu unterstützen, war er u.a. Hilfs-Sheriff, Fotoverkäufer, Barsänger, Kunstgalerist — und der Zweite Weltkrieg entliess ihn am Bauch verwundet auf Okinawa.

Rear Window script
das Titelblatt des Drehbuchs zu «Rear Window», 1953, mit den Signaturen
von James Stewart, Raymond Burr, Alfred Hitchcock und Grace Kelly

Burr wurde dann ein erfolgreicher Schauspieler: Er arbeitete in mehr als 90 Kinofilmen mit, u.a. in Alfred Hitchcocks «Das Fenster zum Hof» und Dennis Hoppers «Out of the Blue» sowie als Steve Martin in zwei Godzilla-Streifen. Seine bekanntesten Rollen spielte er allerdings im Fernsehen. Zunächst als Anwalt Perry Mason, wurde er nach 1967 in fast 200 Episoden (und Wiederholungen bis in die heutige Zeit) endgültig zum Strassenfeger: als ehemaliger SFPD Chief Detective Robert T. Ironside, wegen eines Heckenschützen querschnittgelähmt im Rollstuhl sitzender Polizeiberater für besonders heikle Fälle — «der Chef». Von Universal TV für NBC produziert, war «Chief Ironside» auch so erfolgreich, weil dies der erste Kriminalfilm mit einem behinderten Polizisten war, der die Lösung nur Dank seiner intellektuellen Leistung fand, nicht mit schnellen Beinen oder brachialer Gewalt. Raymond Burr lehrte Drama an der Columbia University, wurde mehrfach für den Emmy und den Golden Globe nominiert (den Emmy Award gewann er zwei Mal), und am Hollywood Walk of Fame, beim 6656 Hollywood Blvd findet man seinen Stern. Diesen September wurde er (reichlich spät) postum geehrt mit dem Canadian Legends Award und einem weiteren Stern am Canada's Walk of Fame in Toronto.


«Bacchantes»
«Bacchantes», Kunstkarte J.J. Hummel 1960, Editions Hedimot, Basel;
nach der Lithographie «Zwei Bacchantinnen», 1958, WV 271,
Verlag L’Œuvre Gravée

Faune Et Bacchante I
Faune Et Bacchante II
Faune Et Bacchante III
Faune Et Bacchante IV
F&B I
F&B II
F&B III
F&B IV


Hans Erni ist auch ein Meister der Farben: Es ist im Lichtbild fast unmöglich,
seine eigenen Töne treffend wiederzugeben …


«Bacchante Assise»
«Bacchante assise», Kunstkarte J.J. Hummel 1960, Editions Hedimot, Basel;
nach der Lithographie «Sitzende», 1958, WV 272, Verlag L’Œuvre Gravée


Spielte Burr auf der Leinwand und im TV eher dunkle Figuren und wortkarg harte Helden, war er in Wahrheit ein herzlicher, sensibler Mensch und grosszügiger Philantrop. Er übernahm zahlreiche Patenschaften und medizinische Hilfeleistungen für Kinder, unterstützte weltweit karitative Werke und vertrat die Belange der Korea- und Vietnam-Veteranen. Mit seiner Erfahrung als im Rollstuhl gefesselter TV-Held («I was grateful for the opportunity»), stellte er sich Behindertenorganisationen zur Verfügung und setzte sich in Washington für deren Rechte ein, indem er u.a. Gesetzesvorlagen für bauliche Massnahmen an öffentlichen Gebäuden initiierte.

«Le vin»
«le vin», 1962, Lithographie, 53 x 75 cm; aus «ivresse • la vigne le vin»,
der Anthologie zu Rebe und Wein mit 60 Lithographien, Auflage 230 Ex.

1982, nach dem Tod zweier guter Freundinnen — Natalie Wood und Grace Kelly —, verkaufte Burr sein Anwesen in Hollywood und siedelte um ins kalifornische Healdsburg, zu Robert Benevides, seinem langjährigen Freund und Geschäftspartner. Dort widmeten sie sich ihrer gemeinsamen Leidenschaft, den Orchideen, gründeten Sea God Nurseries (eine renommierte Firma mit Zuchtbetrieben auf Fiji, Hawaii, den Azoren und Kalifornien) und zogen in rund 20 Jahren mehr als 1'500 neue Hybride, die heute noch weitherum bewundert werden.

Raymond Burr Estate Port
die jüngste Generation: der Portwein und andere Tropfen
(courtesy of Raymond Burr Vineyards) sowie ältere Nachweise

Benevides hatte das Gut im Dry Creek Valley/Sonoma Cy 1976 gekauft und produzierte nebenbei Hopfen und Zwetschgen. Burr erkannte bald, dass Boden und Klima für die Rebzucht bestens geeignet waren, und so pflanzten sie 1986 Cabernet Sauvignon an; später kamen Cabernet Franc und Chardonnay sowie eine kleine Menge Portwein-Trauben dazu. 1990 gab es die erste Lese, die nach drei Jahren, Ende 1992 in Eichenfässern von John Pedroncelli in 1'040 Kisten abgefüllt 1995 auf den Markt kam (die mir bekannten Etiketten zeigen alle den Weingott aus Hans Ernis Hand — wie auch ein Ende 2012 entdecktes T-Shirt :–)

«Winzer und Winzerin»
«Winzer und Winzerin», 1976, Tempera, 65 x 50 cm
(Kunstkarte Nr. 240, Hans Erni-Museum, Luzern)

Burr war auch ein Kunstsammler, und seine Liebe zu Ernis Werk offenbart sich in Mary Murphys Nachruf: «In the weeks before the end, the 76-year-old actor would lie in bed for hours staring at the ceiling or at six paintings by his favorite artist, Hans Erni» (TV Guide, Sep 25, 1993). Ray Burr muss ein faszinierender Kerl gewesen sein, wohl ähnlich seinem 1992er Cabernet Sauvignon: «big, full of gusto, complex and jubilantly alive». Geblieben ist nicht nur die Erinnerung an viele spannende Stunden vor dem schwarzweissen Guckkasten — Raymond Burr hinterlässt das Vorbild eines engagierten und gleichwohl eigensinnig erfüllten Lebens, das wohl am besten mit seinen Worten beschrieben werden kann, als er in einer Reportage über nordkalifornische Weine sagte: «… probably one of the most important things in a vineyard are the footprints of the grower between the rows …».

«Der Weintänzer»
«Der Weintänzer», 1980, Radierung (Ausschnitt), 35.5 x 28.5 cm (Blatt)
(courtesy of Georg Friedrichs, Galerie-F)

In der etwas näheren Umgebung — diesmal in Martigny, am Rhône-Knie — begegnet man weiteren Erni-Spuren, sogar unerwartet an einer Fassade oder in einem Kreisel:

Hans Erni Minotaurus
die wunderhübsche Nachtaufnahme eines mir unbekannten Fotografen (zvg)

Dahinter steckt Léonard Gianadda, der Bauunternehmer und Mäzen. Alles begann, als der Sohn eines Piemontesers und einer Walliserin 1976 beim Aushub für einen Wohnturm auf die Überreste eines keltischen Tempels stiess. Zwar hätte er weiterbauen dürfen (und dabei die Ruinen entsorgen), aber es gefiel ihm nicht — und dann starb sein jüngerer Bruder Pierre bei einer Notlandung im letzten Versuch, zwei Passagiere aus dem brennenden Flugzeug zu retten. Dieses Unglück war Katalysator und Wendepunkt zugleich: Léonard gründete die Fondation Pierre Giannada, in Erinnerung an seinen Bruder und um seiner Geburtsstadt ein archäologisches Museum zu schenken.

Gianadda Pinot Gris
«L'enlèvement d'Europe», 1998, abgebildet auf der Etikette
zum Festwein der Fondation Pierre Gianadda, Caves Orsat

Fondation Gianadda
fontaine Ondine
fontaine Ondine detail
fontaine Ondine HE signature
Fondation G.
«Ondine» 1
«Ondine» 2
«Ondine» 3


Die Fondation öffnete ihre Tore im November 1978 (an Pierres vierzigsten Geburtstag) und entwickelte sich über die Jahre zu einem bunten Kulturplatz: Das gallo-romanische Museum versammelt lokal bedeutende archäologische Zeugnisse und erweitert den Weg durchs historische Octodurus; die feine Sammlung von rund 50 Oldtimer-Automobilen erfreut nicht nur kleine Buben (und grosse Mädchen), sondern zeigt auch eine gelungene Auswahl der sonst eher vergessenen Schweizer Automobilhersteller; das Vieil Arsenal veranschaulicht in Bild, Ton und Modell das einmalige Genie des Generalisten Leonardo da Vinci; im wunderhübschen Skulpturenpark darf man gwunderig frei spazieren (und sogar den Rasen betreten, um Kunst, Baum und Strauch hautnah zu erleben); man kann auch Konzerte besuchen, sich an Musik und Gesang erfreuen — und das alles unter einem Dach mit Künstlern wie Erni, Calder und Chagall, Miró, Moore, Picasso, Rodin und van Gogh …

Bronzeplatte
eine der im Boden vor der Fondation eingelassenen Bronzeplatten
zeigt Hans Ernis Handabdruck und die berühmte Taubensignatur

Solch Kunterbuntes stösst dem einen oder anderen Kulturkritiker sauer auf, und man kann die Fondation Pierre Gianadda als eitles Sammelsurium persönlicher Leidenschaften disqualifizieren — wohlan! Da ganze zwei Prozent des Budgets aus Steuergeldern kommen und der Rest Jahr für Jahr privat finanziert werden muss (und bezahlt wird), da in knapp 30 Jahren rund acht Millionen Menschen diese Kulturstätten besuchten, ist elitäres Stänkern schlicht überflüssig. Man will ins Automobilmuseum und begegnet bildender Kunst; man hört Händel, Vivaldi und findet später vielleicht den Zugang zu John Cage; man möchte einmal im Leben eine Sopranistin live erleben und staunt im Vorfeld unerwartet über die Fertigkeit der altrömischen Goldschmiede — so what? Kultur ist das umfassende Netzwerk menschlicher Errungenschaften. Es gibt genügend zugeknöpfte Stehkragenmuseen; weshalb soll ein Ort der Begegnung nicht ausnahmsweise heiter sein und offenherzig jedermann willkommen heissen?

«Gianadda catalogues»
die Kataloge der drei Hans Erni-Ausstellungen bei Gianadda

Hans Erni ist seit langem wiederholt zu Gast in Martigny, seine erste Walliser Ausstellung war 1967 im Manoir. Gianadda zeigte ihn heuer zum dritten Mal (immer anlässlich eines runden Geburtstages), und 1998 zum zwanzigsten Wiegenfest der Fondation schmückten Ernis Europa und der Stier den Jubiläumswein, einen Malvoisie Pinot Gris der Orsat-Kellerei. Die Flaschen sind nicht mehr käuflich, doch die Etikette kann man im Shop der Fondation erwerben.

«Winzer und Winzerin»
«Winzer und Winzerin», 1983, Werbe-Vignette, VW VP-12 (Beleg);
der Comptoir zeigte u.a. die Ausstellung «L'homme et l'écologie»

«So schweizerisch wie das Matterhorn und das Sackmesser» titelte am 10. Oktober 2008 das Magazin der Wiler Zeitung und meinte damit einen berühmten Waadtländer und den wohl bekanntesten Schweizer Weisswein: den aus reinen Chasselas-Trauben gekelterten «Eidechsli-Wy» von Henri Badoux — yep! der Wein, den die Oltner SSG ihren Gästen kredenzte, als in den Speisewagen der SBB noch richtig gekocht wurde … Dieser fein-würzige Tropfen ist derart ein Standard, dass der Akkordeonist, Ländlerkönig und Träger des «Prix Walo» und des «Goldenen Violinschlüssel 2003» Willi Valotti ein Stück komponierte und die Kapelle Heirassa damit einen Hit landete.

«Le Lézard Vert»
die legendäre «Le Lézard Vert»-Etikette, entworfen von Frédéric Rouge

Henry Badoux gründete das Familienunternehmen 1908 in Aigle. In seinem Auftrag schuf der Waadtländer Maler Frédéric Rouge 1919 die Etikette für den damaligen «Clos des Murailles» (in den 1950ern wegen einer Gesetzesänderung zur Ursprungsbezeichnung umgetauft in «Aigle les Murailles»). Mit der heimischen Smaragdeidechse als Symbol, dem einprägsamen Namen — er erinnert an die sonnengefluteten, terrassierten Weinberge im Chablais, manche in schwindelerregenden Hanglagen mit bis zu acht Meter hohen Mauern — und Dank eines geschickten Marketing entwickelte sich der «Grand Vin d'Aigle» rasch zu einem Bestseller.

«Le Lézard Rouge
Hans Ernis «Le Lézard Rouge» für Badoux, 2007;
Hals- und Rückenetikette zeigen die bekannte Taubensignatur
(dazu eine Skizze und ein Fehldruck für eingefleischte Sammler)

Der mehrfach ausgezeichnete Klassiker in der «bouteille Vaudoise» ist das Sinnbild für Schweizer Gutedel schlechthin und heute ein Exportschlager in Europa und sogar in Übersee (um die Nachfrage zu befriedigen, vergrösserte Badoux den Rebbesitz auf mehr als 50 Hektaren in den Appellationen Aigle, Yvorne, Ollon und Saint-Saphorin). 2008, zur Hundertjahrfeier des Unternehmens, beschlossen Henri Olivier und Caroline Badoux, dem grossen Weissen einen «kleinen roten Bruder» zu schenken: Ende 2009 kam «Le Lézard Rouge» mit Jahrgang 2007 erstmals auf den Markt — und das Besitzerpaar konnte Hans Erni gewinnen, die Etikette des neuen Cru Maison zu entwerfen (btw, für Liebhaber: Ein Goodie ist die Magnum, denn der Schubdeckel der Holzkiste zeigt Ernis Schriftzug).

«Skizze (Ausschnitt)»
Ausschnitt einer Skizze (aus: «erni skizzen 82/83»)

Wenige Kilometer flussaufwärts von Martigny entfernt liegt die Gemeinde Saillon, bekannt wegen des weltweit kleinsten in einem offiziellen Kataster erfassten Weinbergs: die «vigne à Farinet» mit drei Rebstöcken auf 1.618 m². Die «Amis de Farinet» — 1980 gegründet von Jean-Louis Barrault (er spielte 1938 die Hauptfigur des legendären Schmugglers und Falschmünzers Joseph-Samuel Farinet in Max Hauflers «L'or dans la montagne» nach dem Roman von Charles Ferdinand Ramuz) zusammen mit Pascal Thurre, Léo Ferré und Gilbert Bécaud — sind die Paten der drei Reben; Besitzer waren nach Barrault der Emmaus-Gründer Abbé Pierre und seit 1999 der Dalai Lama. Jedes Jahr ist eine Persönlichkeit aus Kunst und Kultur, Politik oder Sport eingeladen, die Reben zu schneiden und zu pflegen. Nach der Lese werden die paar Deziliter Most mit einer Cuvée gestreckt, um schliesslich 1'000 numerierte Flaschen zugunsten benachteiligter Kinder verkaufen zu können.

«Weinlese»
«Weinlese», 1989, Lithographie fünffarbig, 76 x 56 cm (Blatt), WV 747,
(Druck: Graphische Anstalt J.E. Wolfensberger AG, Zürich)

Mir ist keine von Hans Erni gestaltete Farinet-Etikette bekannt, aber er war drei Mal geladener Gast in Saillon, und 2003 hinterliess er den «Amis de Farinet» und der Öffentlichkeit ein einmaliges und sehr passendes Werk.

Schlucht der Salentze
die Schlucht der Salentze

passerelle à Farinet
La Colombe de la Paix
2 Farinet
Etikette Farinet 100 Jahre Erni
passerelle
Friedenstaube
2x Farinet
Etikette


Das letzte Plakat mit einem von Hans Erni gestalteten bacchantischen Motiv gab 2001 die Bergtrotte Osterfingen in Auftrag:

Plakat Bergtrotte Osterfingen 2001
Farben-Offsetdruck, 42 x 30 cm

… und die gegenwärtig jüngste Erni-Etikette erschien zum 100. Geburtstag des Künstlers, sie ziert einen Apéritif- und Dessertwein der Caves Orsat für die Fondation Pierre Gianadda. Seit 1874, als Alphonse Orsat das Unternehmen in Martigny gründete, ist diese Kellerei Teil der Walliser Weinkultur, u.a. als Wegbereiter einer sozialen Personalfürsorge und Partner von vielen kleinen und mittleren Winzern.

Gianadda/Orsat, Hans Erni 100 ans
Spätlese-Assemblage (Marsanne, Petite Arvine, Malvoisie/Pinot Gris),
Jahrgang 2006, Caves Orsat (Prospekt);
die Sonderabfüllung der Fondation Pierre Gianadda gewann 2009 Gold am
Grand Prix du Vin Suisse und am Concours des vins de montagne (Aosta/I)

Anstoss für diesen freimütigen Spaziergang waren drei zufällig entdeckte Etiketten, wenige Quadratzentimeter kleine papierne Warenaufschriften … Nichts gegen raumgreifende Kunst und grossformatige Werke — ich liebe auch Gaudís «under construction»-Sagrada Família und Pollocks wandfüllende drippings —, aber entgegen heute gängiger Vorstellung ist das Format egal: Leonardos Gioconda und Dalís Koloss von Rhodos fänden in der Garderobe Platz.

Traubenstampferin
«Traubenstampferin», 1996, Lithographie

btw, es scheint mein persönliches Syndrom zu sein: Selbst ein so kleines Projekt wächst und wächst, bis schliesslich >50 MB zu scrollen sind … mit Hans Erni lässt sich eben herrlich frei und weit vagabundieren :-)

Bacchus mit drei Pferden
«Bacchus mit drei Pferden», 1957, Tempera, 37 x 26 cm (Lichtmass);
(courtesy of Kurt Burkhard, Zürich)

À votre santé — mais désormais simplement à la vôtre … & merci beaucoup, cher Hans Erni.

PS: Anfang April 2010 zeigte mir Bernard Favre die Doppelseite zu Hans Erni aus Yvan Jaults Buch «Les Créateurs d'Étiquettes de Vins» (ein herausragendes, seltenes Werk in kleiner Auflage mit originalen Etiketten).

Quellen:
• Unterlagen der Caves Orsat, Hammel SA, Henri Badoux S.A., Raymond Burr Vineyards und Vinum SA
• Unterlagen von Bernard Favre
• Kataloge der Fondation Pierre Gianadda
• im Text genannte und eigene Unterlagen

Top